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Im Spiegel des Anderen

Die Türkei als Gastland beim 36. Heidelberger Stückemarkt

Vom 26. April bis zum 5. Mai fand der 36. Heidelberger Stückemarkt statt: Das zweite Wochenende des Festivals war dem Theater aus der Türkei gewidmet, das als einziges Land nun schon zum zweiten Mal als Gastland des Stückemarkts gewählt wurde. Durch diese Auswahl wollte das Festivalteam dem deutschen Publikum ganz andere Einblicke in die Lebens- und Schaffensrealitäten der türkischen Theaterschaffenden bieten, so Katrina Mäntele, Produktionsleitung des Heidelberger Stückemarkts – und damit das gelingt, waren 40 Theaterschaffende aus der Türkei zu Gast.

Die von der Kuratorin Gülhan Kadim ausgewählten Inszenierungen aus der Türkei verhandeln gesellschaftspolitisch relevante Themen und reflektieren die Frage, wie sich das Leben und das Theatermachen unter Erdoğan verändert haben. Außerdem war es dem Team rund um Kadim wichtig, die Diversität der Theaterlandschaft in der Türkei abzubilden – und die Produktionsbedingungen von Theater in der Türkei sichtbar zu machen, sowohl ästhetisch als auch kulturpolitisch.

Wie risikobehaftet ist Theater in der Türkei?

Eine Frage, die sich im Laufe des Wochenendes konstant in jeglicher Form als Reaktion auf jedes Stück, jede Lesung und jede Diskussion stellte war: “Darf das denn in der Türkei überhaupt gespielt werden?” Eine brisante Frage, die kontrovers aufgefasst wurde. Auch beim Theaterlunch am Sonntag, bei dem die Frage behandelt wurde, wie Theater in der Türkei zur Zeit aussieht, kommen die türkischen Künstler*innen auf diese immer wiederkehrende Frage zu sprechen. Alican Yücesoy, türkischer Darsteller und Produzent des Stücks “I Love You, Turkey”, äußerte, dass in unserer heutigen Zeit jeder versuche, auf einem rutschigen Boden zu stehen, nicht nur die türkischen Theatermacher*innen. Damit sprach er sich gegen die Opferposition aus, die zurzeit der Türkei und den dort lebenden Menschen durch viele westliche Medien aufgelegt wird.

Theatermachen in der Türkei, dass sei ebenso risikobehaftet, wie in der Türkei zu leben, schließt sich auch Kuratorin Kadim Alican Yücesoy an. Und der Autor Özen Ula schlägt folgendes Gedankenspiel vor: “Wenn Deutschland die Türkei als Spiegel nimmt und sich darin selbst betrachtet, dann stellt sich die Frage, wie Deutschland darin gesehen wird…” Dadurch gelingt es den türkischen Gästen eine simple Machtumkehrung zu vollziehen: die Türkei ist das Gastland Heidelbergs und in all diesen emotionalen und nervenaufreibenden Inszenierungen geht es um die Widerspiegelung des Politischen auf das Persönliche der Menschen, die in der Türkei leben. Keiner kommt unbeschadet davon, und sowohl “I Love You, Turkey” als auch Zinnure Türes Stück “Zwischenraum” sind Geschichten über diese Verletzungen.

Wie reagiert ein deutsches Publikum auf Interaktionen auf Türkisch?

Im Stück “I Love You, Turkey”, einem der wohl bemerkenswertesten Stücke des Stückemarkts, geht es beispielsweise um fünf Menschen, die sich zufällig in einem Waschsalon treffen und über die gesellschaftlichen und politischen Zustände ihrer Zeit reflektieren. Dabei scheint einer von ihnen Teil der Regierung zu sein und erfüllt eine eher antagonistische Rolle in der Dynamik der fünf. Mit vielen popkulturellen Anspielungen gelingt es dem Ensemble ein von persönlicher Ohnmacht getriebenes Narrativ so zu gestalten, dass das Publikum in einer Art Spannungsentladung auch lachen kann. Dabei scheuen sich die Darsteller auch nicht davor, direkt auf die Tribüne und in die Nähe der Zuschauer*innen zu kommen – auch unabhängig davon, ob die Zuschauenden die Originalsprache des Stückes – Türkisch – sofort verstehen oder doch noch einen Blick auf die Übertitelung werfen müssen. Die teils sehr unbeholfenen Reaktionen aus dem Publikum zeigen, dass es eine ungewohnt offene und direkte Form von Theater für die Anwesenden ist, die gerade durch diesen Kontrast von Form und Inhalt die Zerrissenheit der in der Türkei lebenden Menschen darstellt.

Ein Motiv, das das ganze Stück durchzieht, ist ein Tweet und die darauf dargestellte Festnahme der Verfasserin des Tweets. Jeder im Publikum, der irgendeine Form von Social Media benutzt, kann also gar nicht anders, als sich mit der Festgenommenen zu identifizieren, sodass automatisch ein Gefühl für die Grenzüberschreitung der Politik entsteht und damit auch ein Gefühl von Solidarisierung. Obgleich fiktional und sehr häufig durch Situationskomik dargestellt, hat das Publikum die ganze Zeit keine andere Option, als sich der Wucht der Eindrücke und der persönlichen Trauer jeder Figur zu stellen. Letzten Endes ist auch der Treffpunkt des Waschsalons eine Metapher, die sich vor allem gen Ende zeigt: Wir alle lieben die Türkei und wir alle haben schmutzige Wäsche. Das ist kein Widerspruch und das müssen alle in der Türkei Lebenden ertragen.

Theater als sozialer Raum

Neben diesen gesellschaftlichen Fragen, die die Theaterstücke aufwerfen, werden beim Heidelberger Stückemarkt auch spezifische Produktionsbedingungen des Theaters in der Türkei diskutiert: Ayşe Draz, Mitbegründerin des Tiyatro Hemhal, bedauert, dass es schon immer in der Türkei vernachlässigt wurde, die eigenen Theaterformen zu dokumentieren. Stattdessen wurden westliche Ästhetiken wie Schablonen übernommen. Entsprechend kann es nicht gelingen, ein kollektives Gedächtnis zu entwickeln, und das, obwohl es eine türkische Tradition ist, Geschichten zu erzählen.

Der Theaterwissenschaftler Mehmet Kerem Özel sagt explizit, dass es ihm schwer fällt, eine Beziehung zum Publikum zu finden, und das, obwohl Theater die sozialste Kunstform sei. Das läge hauptsächlich daran, dass die Architektur von Theatern in der Türkei aufgrund der Abwesenheit eines größeren Foyers den Menschen den Austausch erschwert, sodass jeder nach einem Stück, direkt nach Hause geht, anstatt sich noch mit anderen Zuschauer*innen über Ideen austauschen zu können. Dass dies sogar in Istanbul, der Theaterstadt der Türkei, der Fall ist, erschwere die Dynamik der Interaktionen mit dem Publikum. Das mag auch erklären, wieso es in der Türkei schwerer ist eine Bindung von dem Publikum zu den Theaterschaffenden und den Stücken zu etablieren.

Wenn Theaterstücke gelesen werden

Neben einer Vielzahl an Theateraufführungen und Diskussionen, wurde auch ein internationaler Literaturwettbewerb in Form von Lesungen organisiert. Die Theaterstücke von drei deutschsprachigen und drei türkischsprachigen Autor*innen wurden als Lesungen inszeniert. Die Lesungen der aus dem türkischen ins Deutsche übersetzten Stücke fanden am vorletzten Tag des Stückemarkts statt. Obgleich die Texte auf Deutsch gelesen wurden und auch den türkischen und türkischsprachigen Menschen im Publikum so nicht die Möglichkeit gegeben war, die Texte im Original zu spüren, war es doch eine interessante Perspektive um zu erleben, wie ein türkischer Text im Deutschen “funktioniert”. Sich vorzustellen, wie eine bestimmte Zeile, eine bestimmte Redewendung auf Türkisch gewirkt hätte, war einerseits eine Ablenkung von der Lesung, andererseits jedoch auch eine Demonstration davon, welchen Einfluss Sprache auf die Wahrnehmung hat und wie wichtig und wertvoll die Kunst des Übersetzens ist. Alle drei Texte wurden von Recai Hallaç übersetzt, der auch die Nachgespräche nach jeder Lesung mit den türkischen Autor*innen simultan übersetzte. Wie es für szenische Lesungen typisch ist, war es auch hier so, dass jede Rolle im Stück eine eigene Besetzung in der Lesung hatte.

Die erste Lesung war von Halil Babürs Stück „Das Feuer in mir“, das sich innerhalb eines dystopischen Settings in fünf voneinander abweichenden inhaltlichen Ausschnitten mit den immer selben Personen, mit der Frage beschäftigt, wie unveränderlich die Persönlichkeit eines Menschen ist, und wie groß genau der Einfluss von Sozialisierung, Erfahrungen, Umständen und Lebensweisen auf diese sind. In dem Nachgespräch stellte Maria Schneider, eine Dramaturgin des Heidelberger Theaters, Fragen an den Autor. Unter anderem wurde thematisiert, dass es schwierig war, diesem Text in dieser gelesenen Form folgen zu können, da die fünf unterschiedlichen Inhalte sehr abrupt aufeinander folgten und es schwer war, die Dynamik der Figuren rauszuhören und mit dem Inhalt zu verbinden. Aufgrund dieser Irritation, die das Publikum weitestgehend zu teilen schien, waren die Reaktionen auf den Text auch weniger begeistert als auf die zweite und dritte Lesung. Als Inspiration für den Text benannte der Autor, dass er dieses existenzielle Gefühl von Lebendigkeit erfassen und verarbeiten wollte, dass er beim Übergang von seinem 29. in sein 30. Lebensjahr verspürt hätte.

Geschichten der Solidarität

Die zweite Lesung stellte „Gefüllte Weinblätter mit Ruß“ von Fatma Onat dar. In diesem Stück  geht es um Femizide, und die generelle Gewalt gegen Frauen, in der Türkei. Die Autorin will das Schweigen um den Zustand brechen und dieses Thema gesellschaftlich enttabuisieren, so dass Betroffene sich solidarisieren können und auch die Mehrheitsgesellschaft in der Türkei aufhört, Gewalt gegen Frauen zu normalisieren. Das Lesungsensemble bestand aus drei Frauen, die zusammen in einem Haus leben und sich gegenseitig unterstützen. Das Stück hatte trotz der so wichtigen und komplexen Thematik eine Art, nicht zu beschuldigen, sondern Hoffnung zu streuen. Auch das Motiv der Weinblätter, „Yaprak sarması” hat sich im Namen einer der Frauen gespiegelt; Yaprak, die auch die heiterste der dargestellten Frauen war. Sie hat vom Zerbrechen und Verletztsein erzählt, aber auch von der Wichtigkeit, darüber zu sprechen und füreinander da zu sein. Im Nachgespräch mit der Autorin des Stückes wurde noch einmal deutlich, wie wichtig es der Autorin war, diese Thematik zu adressieren, und aufzuzeigen, dass Frauenrechte in der Türkei genauso erkämpft werden müssen, wie überall sonst auch. Die Solidarisierung von Betroffenen sieht sie dabei als heilsam an. Sie erzählte Geschichten von Frauen, die sie getroffen habe und die ihr Inspiration für die Figuren im Stück geliefert hätten.

Tragischkomische Gesellschaftskritik

Das letzte Stück, „Der Gast“ von Ömer Kaçar war wohl das berühmteste Stück unter den dreien, da es in der Türkei mehrere Preise gewann. Auch bei der deutschen Lesung holte es das Publikum komplett ab, was neben der Thematik sicherlich auch der Darstellung durch die Lesenden zu verdanken ist. In dem Stück geht es um Fremdenfeindlichkeit in der Türkei. Porträtiert wird das im Rahmen eines Abendessens einer Familie, welche einen Fremden als Gast bei sich willkommen heißt, der nicht spricht. Am Anfang wurde angemerkt, dass dieser Fremde nicht von einem Menschen gespielt werden muss bei einer theatralen Darstellung, sondern auch ein Gegenstand sein kann. Schon da war klar, dass dieses Stück es auf wundersame Weise beherrschen wird, das Publikum an Stellen zum Lachen zu bringen, wo man eigentlich am Liebsten geweint hätte. Dabei ist es Ömer Kaçar gelungen, seinen Zynismus in Situationskomik zu verpacken, ebenso wie die Funktionsweise von Fremdenfeindlichkeit in der Türkei offenzulegen. So überrascht es auch nicht, dass er für seinen Text den internationalen Autor*innenpreis sowie den Publikumspreis gewann. Auch dieser Autor offenbarte im Nachgespräch zur Lesung genauere Details und Hintergründe zum Entstehungsprozess des Stückes, ebenso wie zu seinen eigenen Beobachtungen über Fremdenfeindlichkeit in der türkischen Bevölkerung. Er erzählte, dass er ursprünglich ein anderes, nicht um Fremdenfeindlichkeit zentriertes Theaterstück verfassen wollte, jedoch mehrere Situationen erlebte, in denen Geflüchtete öffentlich gedemütigt wurden, sodass er sich dazu verpflichtet fühlte, diese politischen Zustände zu verhandeln.

Einen politischen und widerständigen Raum schaffen

Alles in allem waren es politische Stücke, die aus dem Gastland Türkei gezeigt wurden. Kunst muss nicht den Anspruch haben, über ästhetische Ansprüche hinausgehend Gesellschaftsentwürfe zu präsentieren oder kritisieren, aber manchmal kann sie uns einen Spiegel vorhalten. Und das ist gelungen: Die Stücke haben ein Bewusstsein für Probleme in der Türkei geschaffen, die jedoch universal und nicht nur singulär türkische Phänomene sind. Der Mut der Autor*innen in einem ihnen fremden Land ihre Stücke einer Öffentlichkeit preiszugeben, hat sich in vielerlei Hinsicht gelohnt. Nicht zuletzt, weil sie mal wieder demonstriert haben, dass Theater und Kunst aus der Türkei viel mehr Facetten hat, als es uns in Deutschland manchmal bewusst ist. Festivals wie diese zeigen, wie wichtig es ist, in Deutschland Plattformen zu schaffen für Kunst aus anderen Ländern und Kulturen, nicht nur um einen kulturellen Austausch zu ermöglichen, sondern auch um Kunst jedes Mal aufs Neue als einen politischen und widerständigen Raum zu etablieren – überall.

Text: Melek Halici
Mitarbeit: Judith Blumberg, Aylin Michel, Marlene Resch
Titelbild: Murat Dürüm (Aus dem Stück Iki/Zwei)
Fotos im Text:  Emre Mollaoğlu ( “I Love You, Turkey”)