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Wesele

Über den Besuch einer besonderen polnischen Hochzeit

Studierende der Universität Hildesheim luden in ihrer interaktiven Performance WESELE zur Auseinandersetzung mit dem Thema Liebe aus queerer und polnisch-deutscher Perspektive ein.

Eine lange Tafel, mit weißem Samt überzogen, gedeckt und geschmückt mit Tischgedecken und Blumensträußen, Żubrówka Biała-Wódka und Oranżada-Flaschen, Karamellbonbons, Sauren Gurken und personalisierten Namensschildern an jedem der über zwanzig weiß eingekleideten Sitzplätze. Der Blick auf das Bühnen-Setting lässt keinen Zweifel: Hier wird heute gefeiert. Doch was gefeiert wird und wie, das wird durchaus begleitet von Zweifeln und Widersprüchen, wie sich in den folgenden zwei Stunden herausstellen wird. 

Pobieramy się! Wir heiraten! Lautet die Ankündigung der partizipativen Performance WESELE (polnisch: Hochzeit), die von Studierenden am Institut für Theater, Medien und populäre Kultur der Universität Hildesheim im Rahmen eines Bachelor-Projektes an zwei Tagen Ende März 2023 auf die Bühne gebracht wurde. Die Einladung zur Wesele ist eine Einladung zum gemeinsamen Hinterfragen von Vorstellungen von Heirat und Liebe aus queeren und post-migrantischen Perspektiven: “Was sind Schnittstellen, Zweifel und Begehren, die wir mit unseren Eltern, unseren Großeltern teilen? Was soll erhalten, was niedergerissen werden?”, heißt es weiter im Ankündigungstext:

Wir möchten mit liebevoll kritischem Blick die polnischen Erfahrungen aufarbeiten, die uns mitgegeben wurden und uns geprägt haben und – zwischen traditionellen Bräuchen, Popkultur und kitschigen Einladungskarten – die Liebe feiern, und zwar genau so, wie wir es mögen.”

Performer*innen und Gäst*innen stoßen auf die Liebe an

Nämlich ohne Hochzeitspaar, und mit allem, was sonst zu einem solchen Anlass –  einem Fest der Liebe – dazugehört: Die Gäst*innen sind dem vorgegebenen Dresscode entsprechend frühlingshaft elegant gekleidet und werden von den Performenden, vier Flinta*-Personen in schwarzen festlichen Anzügen, zur aktiven Teilnahme an verschiedenen Interaktionen im Laufe des Abends ermuntert. Es werden Reden gehalten, Gläser gehoben und gemeinsam polnische Lieder gesungen. Es wird geredet und getanzt zu Hochzeits-Hits und Pop-Songs. Und natürlich gegessen: Mehrere Gänge polnischer Köstlichkeiten in vegan und vegetarisch werden aufgetischt (traditionelle Fleischgerichte gibt es auch – in Form digitaler Projektionen), in Abwechslung mit Programmpunkten wie einem Gruppenfoto der Hochzeitsgesellschaft oder der Eröffnung der Tanzfläche durch zwei innig tanzende queere Körper – ein Moment liebevollen Auflehnens gegen Tradition und Heteronormativität. Begleitend zu den regen Tischgesprächen ertönen Audioaufnahmen vom persönlichen Austausch der Performenden mit ihren Eltern und untereinander. Über Erfahrungen polnischer Sozialisierung, Fragen nach Hochzeit und Tradition, nach Liebe und Identität. Zentrales Thema ist hierbei immer wieder die Betroffenheit von Klassismus-Erfahrungen, beispielsweise wenn Geldmangel, das ständige Gedankenkreisen der Eltern um Arbeit, und die Tiefkühlpizza vor dem Fernseher nach der Schule diskutiert und eigene erste Berührungspunkte mit der Kunstwelt reflektiert werden.

Bemerkenswert ist der selbstverständliche Umgang mit Zweisprachigkeit: In den Gesprächen mit Familienmitgliedern wird fließend zwischen Deutsch und Polnisch gewechselt und auch am Tisch finden Unterhaltungen in beiden Sprachen statt. Nicht jede anwesende Person versteht alles, nicht alle Referenzen erschließen sich – und darum geht es auch nicht. Sondern vor allen Dingen darum, dass alle eine gute Zeit miteinander haben und neben dem guten Essen und den Programm-Highlights vielleicht auch neue Perspektiven gewinnen können.

Gemeinsames Singen: Sto lat /ˈstɔlat/ („Hundert Jahre“) ist ein traditionelles polnisches Lied, das der besungenen Person gute Wünsche ausdrücken soll

In der Abschlussrede klingen noch einmal ganz explizit die Ambivalenzen und Erfahrungen an, die die Entstehung der Performance motiviert haben:

Zwischen Deutschland und Polen, strukturellen Mechanismen und individuellen Erfahrungen, Ost und West, sozialer Herkunft und Universität, Memes und Diskriminierung, anerzogen und angeeignet, Selbstermächtigung und Entfremdung, Stigmatisierung und Gemeinschaft, Tradition und deren Ablehnung, dem Wunsch nach Anpassung und Auflehnung. 

Zwischen dem Bekämpfen von Binaritäten und dem Reproduzieren jener, dem Zweifel an der Liebe und der Sehnsucht danach.

Zwischen Leer- und Schnittstellen – Aufgrund von Namen, weiß und nicht weiß-Sein:Unsere polnische Identität wird uns nicht angesehen. Sie ist versteckt, ein gehütetes Geheimnis, über Jahrzehnte und Generationen und Rezepte in unseren Herzen und auf unseren Schultern weitergetragen (…)

Wir wollten eine Sprache finden, für uns, für die Fragen, auf die wir selbst noch keine Antworten haben, Gefühle, die sich nicht in Wörter, Silben und Buchstaben einsperren lassen, weil sie die Grenzen unseres Wortschatzes sprengen.”

Und genau das schafft die Performance: Mit Worten, aber auch über diese hinaus, durch eine sinnliche Erfahrung, die Teilnehmenden zu berühren. Durch Gespräche mit Sitznachbar*innen, die feierliche und ausgelassene Stimmung, den Geschmack von Pierogi auf der Zunge und das Nachklingen wilder Tanzparaden im Körper bleibt mir als Hochzeitsgästin dieser Abend in Erinnerung. Er wird zum persönlichen Ereignis und gibt Anstoß zum Nachdenken über die Frage, wie Liebe gelebt werden will, und wie jene in Beziehung steht zu den verhandelten Themen von post-osteuropäischen Identitäten, die in gegenwärtigen Diskursen meist zu wenig Aufmerksamkeit bekommen, und deren unterschiedlichen Facetten mit WESELE ein Raum gegeben wurde. In diesem Sinne: Na zdrowie! Auf polnische post-migrantische Lebensrealitäten und Fluiditäten!

Text und Fotos: Johanna Weisheit


Zur Website der Performance geht es hier.

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