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Von Gefühlen, New Wave und Storytelling

Auf einen Çay mit Zinnure Türe

Zinnure Türe ist eine Schauspielerin und Regisseurin aus Istanbul. Die letzten Monate hat sie im Rahmen einer Künstlerresidenz in Heidelberg verbracht und dort das Theaterstück „Zwischenraum“ mit Schauspieler*innen des Heidelberger Stadttheaters entwickelt. Wir haben uns mit ihr getroffen und über die verbindende Kraft von Gefühlen, das Erschaffen von Erinnerungsräumen und die derzeitige Migration aus der Türkei nach Deutschland gesprochen.

Dafür, dass Zinnure Türe erst seit Oktober in Heidelberg ist, kennt sie sich schon gut aus. Als ich ihr erzähle, dass ich sie in ein türkisches Café mitnehmen möchte, dass ich als eingesessene Heidelbergerin erst vor ein paar Wochen selbst entdeckt hatte, fragt sie ganz gespannt: „Oh welches?“, und zählt eine ganze Liste von Cafés auf. Auch Zekis Unicafé kennt sie schon und fängt gleich an, mit dem Besitzer auf Türkisch zu sprechen. Nachdem dieser unsere Çays vorbeigebracht hat, setzt er sich kurzerhand selbst mit an den Tisch und lauscht gespannt den Erzählungen von Zinnure.

Wie Räume Erinnerungen tragen

Tatsächlich ist „Storytelling“ ein oft verwendetes Stilmittel in den Theaterprojekten von Zinnure. Gerne verwendet sie persönliche Geschichten, aber auch Mythen und Märchen als Material für ihre szenische Arbeit. Denn Erzählen hat sich durch die Menschheitsgeschichte hindurch als Kulturpraxis, die die Universalität unserer individuellen Erfahrungen spürbar macht, bewährt. Gleichzeitig erschaffe das Erzählen Räume der Erinnerung und lasse den Hörer längst verlorene Orte besuchen, sagt Zinnure.

Diese Verknüpfung von Raum und Erinnerung war auch der Grundgedanke des Projekts Sarı Güzergah (Gelbe Route), das Zinnure 2017 im Istanbuler Stadtteil Bomonti konzipierte und realisierte. Die Zuschauer*innen bekamen Kopfhörer aufgesetzt und konnten im Rahmen eines Audiowalks durch die Straßen der Nachbarschaft laufen und den Geschichten eines Ortes lauschen, der sich vor allem seit den 2000er Jahren durch urbane Transformation und Gentrifizierung stark verändert hat. „Eigentlich ist das die Geschichte der Türkei – immer und immer wieder kommen neue Menschen, die die ursprünglichen Einwohner*innen vertreiben“, stellt Zinnure fest und man merkt, dass ihr Bachelorstudium der Stadtplanung, das sie an der Yıldız Teknik Üniversitesi abgeschlossen hat, durchaus einen Einfluss auf ihre Theaterarbeit hat.

„Ich mache gerne ortsspezifische Kunst, denn sie zeigt die Beziehungen zwischen Körper und Raum, wie diese Beziehungen unsere Haltungen beeinflussen und wie bestimmte Ereignisse diese Beziehungen leider auch aufbrechen können.“

Abschied und Aufbruch auf die Bühne bringen

Als vor zwei Jahren ein Team des Heidelberger Stadttheaters nach Istanbul reiste, um dort Theaterschaffende für eine potentielle Zusammenarbeit zu treffen, schlug Zinnure ihnen das Thema der „New Wave“-Migration vor. Als „New Wave“ werden die jungen, oftmals hochqualifizierten Menschen bezeichnet, die seit 2016 aufgrund des politischen Klimas die Türkei verlassen haben. „Damals gab es eigentlich jede Woche für jemand anderen aus meinem Bekanntenkreis eine Abschiedsparty”, erinnert sich Zinnure. Sie beschreibt ein Gefühl des Zurückgelassen-Werdens, das sie und viele andere verspürten, die in der Türkei blieben. Und wie man dieses Gefühl aber herunter schluckte, weil man doch seine Freund*innen unterstützen wollte, die sich auf den Weg in eine unbekannte Zukunft machten. Trotzdem hing dieser innere Konflikt weiterhin wie eine schwere, graue Wolke über den Köpfen.

Damals war diese Migrationsbewegung noch so neu, dass es keine Zahlen oder Daten dazu gab. Mittlerweile weiß man, dass in den letzten drei Jahren über 500.000 Menschen die Türkei verlassen haben. Die Gravität der Situation ist nun in den Köpfen der Menschen angekommen und eine Auseinandersetzung mit der Frage, ob man gehen oder bleiben soll, ist allgegenwärtig. Also entschied Zinnure sich, Interviews mit Freund*innen, Bekannten, und Bekannten von Bekannten zu führen, die als Material für ihr Theaterprojekt in Heidelberg dienen sollten. “Ich möchte Menschen nicht als Zahlen oder Statistiken darstellen”, betont sie und man versteht sofort, wie wichtig es ihr ist, dass diese Migrationsbewegung multiperspektivisch reflektiert wird. Um der schweren, grauen Wolke, die sich oft in Gesprächen nicht so einfach in Worte fassen lässt, endlich eine Bühne zu geben, hat sie auch erfundene Geschichten unter das Interviewmaterial gemischt.

Im Stück „Zwischenraum“ stehen vier Schauspieler*innen auf der Bühne, wobei nur eine von ihnen selbst einen türkischen Migrationshintergrund hat. Auch im Probenprozess wurde sich also dem „Storytelling“ bedient, um den deutschen Schauspieler*innen einen Zugang zur Thematik zu geben. Gemeinsam begab sich das Team auf die Suche nach einer Sprache, einer Erzählform, in der die Geschichten aus den Interviews dem Publikum erzählt werden könnten. Die Herausforderung dabei lag in dem Gewicht dieser Geschichten und darin, eine gewisse Distanz zu erzeugen, um das Publikum nicht mit Emotionalität zu erschlagen, sagt Zinnure.

Universelle Gefühle können Menschen verbinden

Gleichzeitig ist Zinnure davon überzeugt, dass die Emotionen, die in den Interviews aufblitzen, universell sind. „Jeder kennt das Gefühl von Verlust, sei es ein Verlust der eigenen Heimat oder eines Menschen, den man liebt.“ Sie hofft, dass durch dieses gegenseitige Verständnis ein Bewusstsein für bestimmte Thematiken beim Publikum geschaffen werden kann, selbst wenn die Zuschauer*innen vielleicht keinen direkten persönlichen Bezug zum auf der Bühne verhandelten Thema haben.

So auch ihre Antwort auf meine Frage, wie politisch sie ihre eigene Theaterarbeit begreife: „Es geht mir um die persönlichen Geschichten, die inneren Monologe der Menschen. Indem wir diese Geschichten miteinander teilen, werden wir nicht unbedingt Leute dazu bewegen, für eine politische Partei zu kandidieren oder sich an einer Demo zu beteiligen. Aber das ist auch nicht mein Ziel. Viel wichtiger sind die Verbindungen, die diese Geschichten zwischen den Menschen aufbauen. Solange wir an diesen Verbindungen festhalten, haben wir die Chance gemeinsam etwas zu bewegen. Darin liegt meine politische Absicht.“

Deutschland hat schon einmal eine wichtige Rolle in der Migrationsgeschichte der Türkei gespielt. Auch Zinnures Familiengeschichte ist durch Migration geprägt: Sie wurde 1981 in Tettnang als Tochter einer türkischen Gastarbeiterfamilie geboren. Im Alter von drei Jahren zog sie mit ihrer Familie zurück in die Türkei, wo sie aufwuchs. Alte Videos aus ihrer Kindheit haben ihren Weg in das Stück gefunden und so überlagern sich die verschiedenen Migrationsbewegungen aus der Türkei und werden repräsentativ für einen Moment der Entscheidung und für die Konsequenzen, die diese Entscheidung birgt. Für Zinnure ist es klar, dass verschiedene Gruppen ihr Stück auf verschiedene Art rezipieren werden und dass jeder einen individuellen und persönlichen Zugang zur deutsch-türkischen Migrationsgeschichte hat. Sicherlich bietet das Stück aber auch Anknüpfungspunkte für das deutsche Publikum, um diese alte Verbindung in einem neuen Kontext zu reflektieren.

Koffer voller neuer Erfahrungen

Unsere Çaygläser sind schon leer und die Zeit ist vorangeschritten, doch bevor Zinnure zur Probe zurück muss, stelle ich ihr noch eine letzte Frage: „Wir haben viel über Verlassen und Zurücklassen gesprochen. Sobald deine Künstlerresidenz hier in Heidelberg zu Ende ist, wirst du Deutschland wieder verlassen und zurück in die Türkei gehen. Was wirst du denn mitnehmen?“ Zinnure muss schmunzeln, als sie die Frage hört und braucht ein bisschen, um ihre Gedanken zu sortieren. Dann spricht sie voller Dankbarkeit über die Erfahrungen, die sie während ihrer Zeit in Heidelberg machen durfte, über die neuen Impulse, die sie fernab ihrer gewohnten Umgebung aufnehmen konnte, und wie die Ruhe und Schönheit dieser Stadt ihr den Raum gegeben haben, Erlebnisse zu verarbeiten und sacken zu lassen. Abschied zu nehmen und die Koffer zu packen, das sind letztendlich auch Muster in Zinnures eigenem Leben. Diesmal zumindest, sind ihre Koffer reich an neuen Erfahrungen und Perspektiven auf das Thema Migration gefüllt, die sie in ihre zukünftige künstlerische Arbeit integrieren kann.

Text
Judith Blumberg

Foto
Nik Mariani


Das Theaterstück „Zwischenraum“ wird an mehreren Terminen im März und April sowie im Rahmen des Heidelberger Stückemarkts Ende April 2019 aufgeführt. Weitere Infos und Karten gibt es hier.

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