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Unser Deutschlandmärchen – nennen wir es Leben

Dinçer Güçyeter hat ein Märchen geschrieben. Das Buch ist die bunte Collage zweier Leben: Fatmas und Dinçers. Zwischen Deutschland, der Türkei, Fabriken, Bauernhöfen und Theaterbühnen beschreibt Güçyeter ein bislang unbekanntes deutsches Märchen: “UNSER DEUTSCHLANDMÄRCHEN” ist 2022 im mikrotext Verlag erschienen und wurde mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet.

Dinçer Güçyeter hat ein Märchen geschrieben und damit ist er gerade in Deutschland in bester Gesellschaft. Märchen finden sich zwar in allen Kulturkreisen[1], sind aber hierzulande fest verbunden mit dem Namen der Gebrüder Grimm und gelten als Teil des literarischen Kanons. Die beiden wurden mit ihrer Sammlung berühmt und prägen die deutsche Literatur bis heute. Und Güçyeter wird hoffentlich ähnliches gelingen mit seinem DEUTSCHLANDMÄRCHEN. Denn dieses Buch hat alles, was ein Märchen ausmacht und geht weit darüber hinaus.

Es ist ein Mosaik deutsch-türkischer Erzählungen, es ist eine Familiengeschichte und vor allem ist es Fatmas Geschichte. Frauen waren und sind schon immer Geschichtensammlerinnen gewesen, sie bewahrten und bewahren Kultur. Daher beginnt UNSER DEUTSCHLANDMÄRCHEN folgerichtig mit Hanife, der Großmutter der Geschichte. Und es beginnt nicht in Deutschland, sondern in einem längst vergangenen Land, welches die Zeiten nicht überlebt hat: das Osmanische Reich. Hanife ist die Tochter Ayşes, die sie als Nomadin bezeichnet und aus Griechenland stammte:      von dort vertrieben, geht ihre Geschichte in Anatolien weiter und wird in Deutschland weitergeschrieben. Umherwandernde Menschen auf der Suche nach einem neuen Zuhause, fern der Heimat – zu allen Zeiten.  

Das Buch ist die bunte Collage zweier Leben: Fatmas und Dinçers, die voller Farben, Gerüche, Orten und Menschen sind. Während manchmal die Zeit stehen zu bleiben scheint und sich Schichten in der Fabrik oder unerfüllte Wünsche wie Kaugummi ziehen, rennt die Zeit in anderen Momenten scheinbar vor den vielen Ereignissen davon. Immer wieder reißt die Geschichte ab, weil sich unzählige Bilder und Gedichte zwischen den einzelnen Kapiteln finden. Man schaut in Gesichter der 1960er, in der Türkei, in Deutschland, in Wohnzimmern, auf Höfen oder vor Fabriken, springt in die 1980er.   

Fatmas Alltag in Deutschland ist geprägt von Geldmangel, Armut, ihrem zunächst unerfüllten Kinderwunsch und viel harter Arbeit. Jedes Kapitel zeigt einen neuen Versuch, Geld zu verdienen und Schulden abzubezahlen. Egal ob in der Fabrik, beim Bauern Willi, in der Kneipe oder in den „Ferien“ im Heimatdorf. Zwischen den Seiten möchte man Fatma nehmen, ihr die Füße hochlegen und sie bitten, einen Çay zu trinken. Doch diese Fürsorge übernimmt sie meist für andere: Und ja, so einfach wird die Reise nicht. Aber wir nennen es Leben, sagt sie zu Dinçer. Ihr Leben nimmt 1965 eine Wende als sie ihrem Ehemann nach Deutschland folgt. Yılmaz und sie haben erst vor kurzem geheiratet, sie kennen sich kaum und teilen von da an Bett, Arbeit und sehr bald auch Schulden. Fatma soll den Weg für ihre Brüder pflastern, sagt die Familie. Pech mit Investitionen, Alkohol und Glücksspiel sind Yılmaz Begleiter. Fatma stemmt sich dagegen, arbeitet, spart, wartet auf ein Kind und sieht ein, dass ihr Ehemann zwar gut, aber nicht verlässlich ist. Obwohl sie wie viele Frauen ihrer Zeit (bitte nicht vergessen: auch deutsche Frauen dürfen bis 1977 nur arbeiten, wenn dies mit Ehe und Familie vereinbar ist) eine Marionette im Spiel der Männer ist, denkt und handelt sie selbstbestimmt und strategisch. Sie macht den Führerschein, organisiert eine Gruppe von Frauen für die Feldarbeit und ihre Freundin Zeynep stellt fest, dass am Ende Wundenverwandtschaft die engste, ehrlichste Beziehung, die es geben kann, dann spielen auch Herkunft, der Glaube keine Rolle mehr. Sie besitzt eine innere Stärke und Ausdauer, die einen erschauern lässt. Wie viel kann ein Mensch ertragen, fragt man sich oft beim Lesen. Kommt Tag, kommt Lösung, wäre wahrscheinlich ihre Antwort für uns.    

Und dann spricht Dinçer, der nach 14 kinderlosen Jahren geboren wird. Dinçer, der nach Willen Fatmas eigentlich Murat (der Wunsch) heißen soll, jedoch wiegt das Wort des Schwiegervaters tausende Kilometer weit weg mehr als die Wünsche einer Mutter im Wochenbett. Er wächst auf zwischen Kneipe, Fabriken und lernt im Kindergarten Deutsch. Wie viele Kinder wird er zum Dolmetscher für die gesamte Familie – ein Erfolg, auf den Fatma stolz ist. Doch gleichzeitig beginnt auch für Dinçer schon hier der Alltagsrassismus, da man sich ohne Sprache nur schwer wehren kann:  Vor zwei Tagen noch haben die Kinder Dinçer gedemütigt, misshandelt. Wurden die Eltern der Kinder auch zu einem Gespräch eingeladen? Natürlich nicht, aber wenn mein Kind sich wehrt, wird es wie ein Krimineller behandelt, glauben die, ich bin so naiv und merke das nicht? Schon mit sieben möchte Dinçer die Schule abbrechen und wie Fatma bei Bauer Willi arbeiten. Fatma lässt dies natürlich nicht zu, nur der Samstag gehörte ab dann dem Bauer. Mit 16 beginnt er eine Ausbildung, auch hier sorgt Fatma dafür, dass diese nicht abgebrochen wird. Güçyeter bleibt der Märchenform treu, denn sehr alte Märchen sind ambivalent und bisweilen grausam. Gut und Böse oftmals nicht klar trennbar und oft gewinnen nicht die, welche es verdient hätten. Dabei ist Dinçer Welt zu diesem Zeitpunkt schon längst eine andere und in dieser geben sich Dostojewski, Bachmann und Bukowski die Klinke in die Hand. Und er schafft, woran viele zerbrechen: Er ist nicht entweder oder sondern sowohl als auch – Schriftsteller, Lyriker, Theatermacher und Arbeiter.

Doch muss UNSER DEUTSCHLANDMÄRCHEN auch im Zuge gesellschaftlichen Debatten gelesen werden. Während Bundespräsident Steinmeier heute anerkannt hat, dass es Heimaten durchaus im Plural[2] gibt, ist diese Lebensrealität von Millionen bei deutschen Behörden längst noch nicht angekommen. Davon zeugen u.a. die aktuellen Debatten, um die Anerkennung der Lebensleistung von Gastarbeiter:innen. Fatma ist eine von ihnen und stellt nüchtern fest: Heute siehst du, dass sich einige in der Türkei ihre Häuser gebaut haben, hin und her pendeln. Aber viele haben ihre Rente nur höchstens zwei Jahre genossen, und ein Großteil hat es nicht mal bis zu Rente geschafft. Viele erlebten die Rückkehr nur noch im Sarg, viele sind verweht, ohne Zweige, ohne Wurzeln, sie tragen ihre verschwiegenen Geschichten mit sich. Während die aktuelle Koalition darum ringt, ob Menschen im Rentenalter, die ihr ganzes Leben in Deutschland gelebt und gearbeitet haben, auch von der Einbürgerungsreform profitieren sollen, erhält Fatma ein Gutachten des Amtsarztes. Ihr Behinderungsgrad nach 35 Jahren Fabrik-, Ernte-, und weiteren Arbeiten beträgt 70%. Altersarmut ist durch die Arbeit im Niedriglohnsektor unter Migrant:innen prozentual höher als unter Deutschen ohne Einwanderungsgeschichte[3]. Fatmas 70% für das deutsche Wirtschaftswunder und den Wideraufbau nach dem 2. Weltkrieg. DAS DEUTSCHLANDMÄRCHEN zeigt den Preis, den viele Menschen 60 Jahre nach dem Anwerbeabkommen zwischen Deutschland und der Türkei zahlen. Es nennt Mölln und Solingen und Fatma fragt sich, ob es nach dreißig Jahren für uns keine neue Heimat geben soll, während sie ihre Nächte in den 1990er wachend am Fenster verbringt. Die Verletzung, die ein Wahlplakat mit der Aufschrift Schöne Heimreise und einer Frau mit Kopftuch auslöst, bleibt der deutschen Mehrheitsgesellschaft meist verborgen. Fatma steht innerlich in Flammen, genau wie Mölln, Solingen oder auch Sivas einst.

In Deutschland und Österreich ist das Märchenerzählen als Immaterielles Kulturerbe durch die UNESCO anerkannt. UNSER DEUTSCHLANDMÄRCHEN ist ein weiteres Kapitel dieser Tradition und hat mit dem Preis der Leipziger Buchmesse (Rubrik Belleristik) ein Stück Anerkennung erhalten, die vielen bislang verwehrt bleibt. Oder wie Fatma es ausdrückt: „Ich sage es immer wieder, zwischen Himmel und Erde haben sich hier Millionen Geschichten aufgestapelt.“ Hadi Almanya, es ist Zeit zuzuhören!

Text: Rebecca Meier

Illustration: Sharon Nesyt


[1] https://de.wikipedia.org/wiki/M%C3%A4rchen

[2] https://www.bundesregierung.de/breg-de/service/bulletin/rede-von-bundespraesident-dr-frank-walter-steinmeier-1720560

[3] https://www.migazin.de/2014/09/09/gastarbeiter-dreimal-haeufiger-von-altersarmut-bedroht-als-deutsche/

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