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Wie Rassismus mich veränderte

Ein persönliches Statement zu #MeTwo

Die hitzige Debatte um den deutsch-türkischen Fußballspieler Mesut Özil ist nur der Gipfel des Eisbergs, der zeigt, was viele Menschen mit türkischem Hintergrund in Deutschland tagtäglich erleben: Rassismus und rassistische Strukturen. In den Wochen nach Özils Rücktritt haben viele Menschen in den sozialen Netzwerken unter dem Hashtag #MeTwo von alltäglichen Rassismuserfahrungen berichtet. Jede*r von ihnen erzählt ihre eigene Geschichte darüber, wie prägend diese Erlebnisse für ihre eigene Identität waren und sind. Und jede einzelne Geschichte zeigt: Die Härte und Menge an Rassismus, die oftmals schon in der Kindheit beginnt, ist brutal und hat enorme Folgen auf die weitere Entwicklung als Mensch. Für Tuğba begann die Auseinandersetzung mit der Suche nach der eigenen Identität und ihrem Platz in der Gesellschaft – gezwungenermaßen – schon sehr früh.

Es waren Herbstferien und ich war gerade einmal sieben Jahre alt. Mein Opa und ich pflückten Walnüsse bei uns um die Ecke auf dem Spielplatz. Während wir uns an dem Walnussbaum erfreuten, kam die Jugend-Gang der Nachbarschaft und beschimpfte uns im Vorbeigehen als “Scheiß-Türken!”. Das war meine erste Begegnung mit Rassismus, die mir bis heute sehr klar in Erinnerung geblieben ist. Seitdem sollte mich dieses Thema auch  im Schulalltag begleiten. „Als mein Vater dich bei unserer Einschulung gesehen hat, meinte er, dass du bestimmt bald ein Kopftuch tragen musst“, erzählte mir eine Klassenkameradin, mit der ich gemeinsam von der Grundschule auf das Gymnasium gewechselt war. Verdutzt schaute ich sie an. Was genau meinte sie damit? Schließlich trug in meiner Familie doch niemand ein Kopftuch. Ich war in der fünften Klasse, als ich mit derartigen Fragen und Kommentaren konfrontiert wurde. Und niemand warnte mich, dass dies erst der Anfang sein würde.

Nach den Ereignissen des 11. Septembers fragte mich der Vater eben jener Schulkameradin, als er uns von der Schule abholte und nach Hause fuhr, was denn mein Vater von dem Terroranschlag halte. Wie sollte er das schon finden? „Er findet das blöd und ist traurig“, antwortete ich damals als naive Elfjährige. Erst Jahre später begriff ich, dass es bei der Frage eigentlich nicht darum ging, was mein Vater dazu dachte, sondern viel mehr darum, was für eine religiös-politische Einstellung meine Familie hat. Und auch darüber hinaus: Sobald es in irgendeiner Weise um den Islam ging, war ich als einzige Schülerin mit türkischem Hintergrund in der Klasse ohnehin gefragt. Schließlich sollte ich mich als vermeintliche Repräsentantin des Islams auskennen und immer eine Antwort parat haben. Hatte ich aber nicht. Mit elf Jahren hatte ich andere Sachen im Kopf, als mir über solche Themen Gedanken zu machen. Ich war Kind.

Mein Versuch, “Deutsch” zu sein

Fragen und Kommentare solcher Art in Bezug auf die Herkunft meiner Familie oder in Bezug auf die Türkei und den Islam wurden zu einem festen Bestandteil meines Lebens gemacht, ohne dass ich selber mit entscheiden konnte. Es gab kein Drumherum. Keinen Ausweg. Nur eine vermeintliche Flucht, die daraus bestand, möglichst “Deutsch” zu sein. Die Rolle, in die ich durch solche Haltungen gewissermaßen gedrängt wurde, hat mich in der Entwicklung eines gerade heranwachsenden Teenagers enorm beeinflusst und dazu geführt, dass ich alles dafür tat, um möglichst „Deutsch“ zu sein und mich von jeglicher Verbindung zur türkischen Kultur zu distanzieren.

„Deutsch sein“ bedeutete in diesem Fall: In keinster Weise für die Türkei interessieren, meine Eltern überzeugen, auch in anderen Ländern außer der Türkei Urlaub zu machen und kein Türkisch zu sprechen. Ich hielt es für überflüssig, Türkisch zu können und habe alles dafür getan, um es nicht zu lernen. Sogar die Telefonnummer einer potentiellen Türkischlehrerin, die meine Eltern ausfindig gemacht hatten, habe ich zu Hause von unserer Pinnwand über dem Telefon entfernt. Eine zu große Nähe zur Türkei und der türkischen Sprache schien Probleme mit sich zu bringen und mit dem Leben in Deutschland nicht vereinbar zu sein.

Das Gefühl, sich entscheiden zu müssen

Da gab es nur noch ein Problem: Meinen Namen. An dem konnte ich nichts drehen. Egal aus welcher Perspektive man ihn betrachtet, Tuğba Yalçınkaya klingt beim besten Willen nicht Deutsch. Und bis heute führt kein Weg daran vorbei, meinen Namen bei jedem Arzt- oder Bankbesuch zu buchstabieren. Ich habe meinen Namen schon so häufig buchstabiert, dass ich über die Jahre hinweg eine richtige Buchstabier-Melodie entwickelt habe.

Aber nicht nur mein Name, sondern auch meine Augen schienen nicht Deutsch genug zu sein. Dessen wurde ich belehrt, als ich als Teenager mit einer Freundin in der Stadt auf einer Bank saß und wir genüsslich an unserem ersten Sommereis schleckten. Während wir Wochenendpläne schmiedeten, kam ein älterer Herr auf mich zu, blieb zwei Meter vor mir stehen und beugte sich zu mir runter. Ziemlich intensiv schaute er mir in die Augen. Flirten wollte er nicht, so viel war klar. Stattdessen sagte er mit seiner starken Stimme: „Du hast keine deutschen Augen!“ Verunsichert schaute ich ihn an und antwortete: „Doch.“ Würde mir so etwas heute passieren, würde ich wahrscheinlich eine große Diskussion anfangen. Aber damals hatte ich nicht die Erfahrung von heute und nicht das Reflektionsvermögen, das ich mir im Laufe der Jahre erarbeitet habe. Damals dachte ich, es gäbe keine andere Möglichkeit, als sich zwischen dem „Türkisch- oder Deutschsein“ zu entscheiden. Alle Zeichen deuteten auf: Entweder oder!

Als die Türkei 2008 bei der Europameisterschaft gegen Deutschland im Halbfinale spielte, hatten meine Familie und ich eine türkische und eine deutsche Fahne außen am Auto hängen. Nach dem Fußballspiel hing die türkische Fahne nur noch am seidenen Faden, weil es scheinbar irgendjemand sehr lustig fand, sie abzureißen. Wie soll ein junger Mensch bei all diesen Erfahrungen und den herrschenden Diskursen nicht das Gefühl bekommen, sich entscheiden zu müssen? Wie ist es möglich, aus diesen imaginären Grenzen auszubrechen, die erst durch ihre Zuschreibung zu gesetzten Grenzen deiner Identität werden? Aus imaginären Grenzen, die dich umzingeln und aus denen sich zu befreien einem Freiheitskampf gleicht. Grenzen, die vermeintlich versuchen, die Definition deines Selbst festzulegen. Und dich denken lassen, du könntest dich nur innerhalb dieses geschaffenen Raumes bewegen. Und dann, irgendwann, kommst du an einem Punkt an, da wird dir dieser Raum zu eng und du versuchst, dir einen eigenen Raum zu schaffen, der deiner hybriden Identität gerecht wird.

Es sind keine “Kleinigkeiten”

Sicherlich muss man vorsichtig damit sein, dass man Fragen, Kommentare und weitere “Kleinigkeiten” nicht sofort als politische Statements betrachtet. Aber wenn sich lauter solcher Erfahrungen und Begegnungen häufen, dann macht das etwas mit dir und deiner Identität. Eine Identität, für die du dich ständig rechtfertigen musst. Eine Identität, die durch rassistische Aussagen und strukturellen Rassismus maßgeblich geprägt wird. Auch wenn rassistische Aussagen von Besoffenen auf der Straße oder die Blicke von Leuten, wenn du Türkisch sprichst, vermeintliche „Kleinigkeiten“ sind, die von außen betrachtet häufig „gar nicht so dramatisch“ sind oder „die Leute es doch gar nicht so meinen”, macht all das etwas mit dir. All das gibt dir das Gefühl, nicht vollwertig zur Gesellschaft gehören zu können und niemals als hybride Identität akzeptiert zu werden. Genau dieses Ausmaß wird von vielen Menschen, die ethnischer Diskriminierung nicht ausgesetzt sind, unterschätzt.

Auch im Jahr 2018 hat sich an dem Diskurs in Deutschland kaum etwas verändert. Aber ich habe mich verändert und rechtfertige mich nicht mehr für das, was ich bin oder vermeintlich zu sein scheine. Ich sitze bei einer Friseurin in Neukölln, um mir meine Haare für die Hochzeit einer Freundin föhnen zu lassen. Was es denn für eine Hochzeit sei, fragt die Friseurin mich. Eine türkisch-serbische, antworte ich. Kaum hat sie das Wort “Türkisch” gehört, werde ich wieder mit Fragen und Kommentaren überschüttet: “Legst du dir dann auf der Hochzeit ein Kopftuch über? Dann wird da bestimmt kein Alkohol getrunken.” Im  weiteren Gesprächsverlauf fügt sie die Frage, die niemals fehlen darf, hinzu: “Warum wollen sich die ganzen Türken nicht integrieren?” Ich hole kurz Luft und versuche ihr dann zu verstehen zu geben, dass türkeistämmige Menschen in Deutschland sehr unterschiedliche Lebensstile haben und dass Integration ein sehr vielschichtiges und komplexes Thema ist, das keinesfalls einseitig betrachtet werden darf.

Identitätsfragen begleiten uns ein Leben lang. Und wenn man mit zwei Kulturen – ich sage ganz bewusst nicht zwischen zwei Kulturen – aufgewachsen ist, dann noch viel mehr. Meine bisherige Erfahrung auf der einen und die immer wieder aufkommende Integrationsdebatte auf der anderen Seite haben mir gezeigt, wie unfassbar wichtig es ist, herrschende Diskurse in ihre Einzelteile zu zerlegen, um den Diskurs aktiv mitzugestalten und nicht nur auf Statements von Politiker*innen oder Autor*innen zu reagieren. So fällt es zumindest ein bisschen leichter, mit dieser Wucht des Rassismus zurecht zu kommen und einen eigenen Weg zu finden.

Text: Tuğba Yalçınkaya
Illustrationen: Irem Kurt


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