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“Wir sind nicht Entweder-oder, sondern Sowohl-als-auch.” – Ein Plädoyer für die doppelte Staatsbürgerschaft

Flughafen Istanbul. Soeben ist meine Maschine gelandet. Als ich das Flugzeug verlasse, folge ich gedankenverloren der Passagiertraube vor mir. Erst als ich von einem weinenden Kind aus den Gedanken gerissen werde, entdecke ich über unseren Köpfen eine Beschilderung, die den Weg zur Passkontrolle und Gepäckausgabe ausweist. Richtig, da war ja noch was! In Gedanken hatte ich mich bereits ins Getümmel der Stadt geworfen, mir ein Açma beim Simitci meines Vertrauens gekauft, um dann die Istiklal Caddesi entlang zu schlendern, während mir der Geruch von gerösteten Maronen und Maiskolben in die Nase steigt und Straßenmusiker ihre…

An der Passkontrolle angelangt, wartet nun das übliche Prozedere: Türkische Staatsbürger bitte zur Rechten, andere Nationalitäten bitte zur Linken. Soweit alles wie immer, wäre doch die Schlange zur Linken nur nicht drei mal so lang wie die zur Rechten. Ich halte kurz inne, lasse meinen Blick von rechts nach links schweifen, zucke mit den Schultern und reihe mich in die rechte Schlange ein. Die Frau vor mir mustert mich ungläubig, als hätte ich mich in der Schlange geirrt. Voller Genugtuung ziehe ich pfeifend meine beiden Pässe aus der Jackentasche, greife nach dem türkischen und lasse den deutschen wieder in meine Tasche gleiten, während ich lässig an der Absperrung lehne. Sie mustert noch einmal eindringlich meinen Pass, dann mein Gesicht und wendet schließlich ihren Blick ab. Keine zehn Minuten später finde ich mich mit gestempeltem Heftchen an der Gepäckausgabe wieder, wo die Koffer der noch an der Passkontrolle Wartenden fröhlich ihre Runden auf dem Gepäckband drehen.

Der Erwerb der doppelten Staatsbürgerschaft

Viele erinnern sich noch an die stürmischen Debatten, die vor nicht allzu langer Zeit noch über sie geführt wurden: Die doppelte Staatsbürgerschaft. Wieder und wieder wurde von der Politik durchdekliniert, ja durchexerziert, wie eine solche Mehrstaatigkeit aussehen kann. Sie ist vermutlich eine der traditionsreichsten Debatten in Deutschland, ist sie bei uns doch schon seit Jahrzehnten gegenwärtig. Doch was waren eigentlich die letzten Ergebnisse jener Kontroverse, wie steht es bei uns um die derzeitige Situation von Mehrstaatigkeit? Zunächst eine kurze Bestandsaufnahme des Status Quo:

Zunächst einmal gilt das sogenannte Abstammungsprinzip: Kinder deutscher Eltern erwerben mit ihrer Geburt automatisch die deutsche Staatsbürgerschaft. Hat nur ein Elternteil die deutsche Staatsbürgerschaft, erwirbt das Kind in der Regel neben der deutschen auch die ausländische Staatsangehörigkeit des anderen Elternteils. Dieses Abstammungsprinzip existiert in der Bundesrepublik bereits seit 1913.

Seit dem Jahr 2000 bekommen auch in Deutschland geborene Kinder ausländischer Eltern (meint: mit einer anderen als der deutschen Staatsbürgerschaft) die deutsche Staatsbürgerschaft, sofern ein Elternteil seit mindestens acht Jahren rechtmäßig in Deutschland lebt und ein unbefristetes Aufenthaltsrecht besitzt. Allerdings wurden diese Kinder bisher spätestens mit Vollendung des 21. Lebensjahres vor die sogenannte Optionspflicht gestellt, nach der sie sich für eine der beiden Staatsangehörigkeiten entscheiden mussten – Entweder-oder. (Hier galten aber einige Ausnahmen: Von der Optionspflicht ausgenommen waren Bürger der EU und der Schweiz. Diesen war es auch damals schon erlaubt, neben der deutschen ihre andere Staatsangehörigkeit zu behalten.)

Auch für in Deutschland Aufgewachsene galt bisher die Optionspflicht – darunter fällt, wer sich entweder acht Jahre gewöhnlich im Inland aufgehalten hat, sechs Jahre im Inland eine Schule besucht hat oder über einen im Inland erworbenen Schulabschluss oder eine abgeschlossene Berufsausbildung verfügt. Diese Kinder haben, wenn sie in Deutschland geboren wurden und eine dieser Voraussetzungen erfüllen – während ihre ausländischen Eltern keine entsprechende Aufenthaltsdauer sowie Aufenthaltsrecht nachweisen können so wie in ersterem Fall – einen Anspruch auf Einbürgerung, also den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit neben ihrer ersten. Bisher mussten sich auch diese aber als Erwachsene für eine von beiden entscheiden.

Als in Deutschland geborenes Kind ausländischer Eltern sind dies die beiden Möglichkeiten, die deutsche Staatsbürgerschaft zu erlangen. Allerdings wurden diese bisher stets vor die Optionspflicht gestellt. Doch das Jahr 2014 brachte eine grundlegende Neuerung: Die Aufhebung der Optionspflicht – und damit die Möglichkeit der doppelten Staatsbürgerschaft für den genannten Personenkreis – unter Erfüllung bestimmter Voraussetzungen: Das in Deutschland geborene Kind muss auch in Deutschland aufgewachsen sein – so, wie bereits oben definiert: Durch einen achtjährigen Aufenthalt im Inland, einen sechsjährigen Schulbesuch im Inland oder einen hier erworbenen Schulabschluss oder eine hier abgeschlossene Berufsausbildung. In diesem Fall können nun beide Staatsangehörigkeiten beibehalten werden.

Auch für ersteren Fall des Erwerbs der deutschen Staatsangehörigkeit – nämlich durch entsprechende Aufenthaltsdauer und Aufenthaltsrecht eines ausländischen Elternteils in Deutschland zum Zeitpunkt der Geburt des Kindes – kann damit also die Optionspflicht entfallen, wenn das Kind gemäß obiger Definition in Deutschland aufgewachsen ist. Eine Einschränkung gibt es allerdings: Die Reform des Staatsangehörigkeitsgesetzes umfasst nur die Geburtsjahre ab 1990. Damit sind zumeist die erste und zweite Generation des entsprechenden Personenkreises von der Möglichkeit einer doppelten Staatsbürgerschaft ausgeschlossen.

Kulturelle Mehrfachzugehörigkeit und ihre öffentliche Geringschätzung

So ist es derzeit um die doppelte Staatsbürgerschaft bestellt. Und wie man sieht, hat sich hier viel getan – einmal abgesehen vom Abstammungsfall, der nun schon seit über 100 Jahren Gültigkeit besitzt. Doch was genau steckt nun eigentlich hinter dieser Diskussion? Geht es dabei tatsächlich nur um formale Rechte wie Aufenthalts- und Wahlrecht?

Nein, für mich geht es dabei um viel mehr: Untrennbar damit verknüpft ist doch die Frage nach der gesellschaftlichen Wahrnehmung und Bewertung kultureller Mehrfachzugehörigkeit, ihrem gesellschaftlichen Stellenwert. Es geht um die kulturellen Doppel-Identitäten derjenigen, die mit zwei (oder gar mehr) Kulturen groß geworden sind und ihre gesellschaftliche Legitimation. Denn in weiten Teilen der Bevölkerung herrschen Unverständnis und Geringschätzung gegenüber solchen Formen der kulturellen Zugehörigkeit. Es gibt nur Entweder-oder. Doch wir müssen endlich weg vom kulturellen Schubladendenken. Und ich bin der Meinung, die Politik hat mit der besagten Reform des Staatsangehörigkeitsgesetzes eine wichtige Basis für die gesellschaftliche Anerkennung kultureller Mehrfachzugehörigkeit geschaffen, ein Zeichen gesetzt – ein Zeichen, das womöglich Wegbereiter eines grundlegenden gesellschaftlichen Paradigmenwechsels werden könnte.

Nur allzu oft habe ich mich in Situationen wiedergefunden, in der ich in harscher Manier dazu gedrängt wurde, mich einem der beiden „Lager“ zuzuordnen: Deutsch oder Türkisch! Das macht mich wütend. Wer sagt denn, dass man nicht beides sein kann? Sowohl im privaten Kontext als auch im öffentlichen Leben – etwa bei der Fahrscheinkontrolle im Zug oder eben auch beim Schlange-Stehen an der Passkontrolle – sehe ich mich nur allzu oft der Kommentierung meiner kulturellen Doppel-Identität ausgesetzt, die zumeist in einer „Entweder-oder“-Frage gipfelt – für mich kommt das einer Leugnung derselben gleich. Und auch eine bestehende „Optionspflicht“ spricht Bände über den gesellschaftlichen Stellenwert kultureller Mehrfachzugehörigkeit. Sie leugnet das „Sowohl-als-auch“ und postuliert ein „Entweder-oder“. Vielleicht spiegelt dies das Bedürfnis des Menschen wider, in Kästchen zu sortieren, zu kategorisieren. Nur leider funktioniert das an dieser Stelle nicht.

Geboren und aufgewachsen in Deutschland als Tochter einer deutschen Mutter und eines türkischen Vaters, war es eben nicht nur die Sozialisation mit der deutschen Kultur, die mich zu dem Menschen gemacht hat, der ich heute bin: So waren es auch das sonntägliche Menemen, das mein Vater für uns zum Frühstück zubereitete, das strikte Schweinefleisch-Verbot, das für uns galt (und nur allzu oft für einen knurrenden Magen sorgte, wenn es beim Mittagessen in der Schule oder beim Gemeinde-Grillen mal wieder keine zulässige Alternative gab), die türkischen Kochkünste meiner Mutter nach Original-Rezept der türkischen Tanten, das immer gleiche Gebet, das mein Vater sprach, wann immer mich mal wieder eine Grippe erwischt hatte, während er mir besorgt die Hand auf die Stirn legte, das bedächtige Bismillahirrahmanirrahim, das mein Vater vor sich her murmelte, wenn er gedankenverloren durchs Haus wanderte, während er seine virtuelle To-do-Liste durchkämmte, der traditionelle Türkei-Urlaub in den Sommerferien und Besuch bei der Familie, feierlich eingeläutet durch das Schächten eines Lamms (das bei meinen Schwestern und mir eine apodiktische Abneigung, ja Feindseligkeit gegenüber Lammfleisch auslöste), aber auch die türkischen Einrichtungsgegenstände von Nazar über Porzellan und Teppiche, die unser Haus schmückten, oder die ausgemachte Gastfreundschaft und Großzügigkeit meines Vaters, die ich bei der türkischen Verwandtschaft wiederentdeckte.

Die Liste ließe sich noch mit einer Vielzahl weiterer Beispiele fortsetzen, doch ich denke, es ist deutlich geworden: Sowohl die deutsche als auch die türkische Kultur haben mich seit meiner Kindheit nachhaltig geprägt, mein Weltbild und meine Denkweise grundlegend beeinflusst und mich zu dem Menschen gemacht, der ich heute bin. Und auch wenn meine kulturelle Biographie individuell sein mag, so steht sie für eine kollektive Form von kultureller Identität und repräsentiert damit eine nicht unwesentliche Gruppe unserer Gesellschaft – die Gruppe der „Sowohl-als-auch“.

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Viele sind der Meinung, kulturelle Identität ist keine Frage des Passes. Das stimmt insofern, als dass man durch die Aufgabe einer Staatsbürgerschaft natürlich nicht die kulturelle Prägung und Sozialisation auslöscht, die einen zu dem gemacht haben, der man ist, über die man sich jetzt und in Zukunft definiert. Aber die Möglichkeit einer doppelten Staatsbürgerschaft sendet eine Botschaft, indem sie den gesellschaftlichen Stellenwert kultureller Mehrfachzugehörigkeit hebt und eben solche Formen kultureller Identität gesellschaftlich legitimiert. Der Doppel-Pass bekleidet damit ein höchst politisches und repräsentatives Amt.

An Aktualität hat das Thema übrigens nicht eingebüßt, wurden doch im Sommer dieses Jahres im Hinblick auf den Bundestagswahlkampf 2017 erneute Forderung aus den Reihen der Union laut, die Reform des Staatsangehörigkeitsgesetzes wieder aus ihren Angeln zu heben. Umso mehr ist dieser Text als Plädoyer zu lesen.

Text: Vanessa Selma Özdemir
Redaktion: Judith Blumberg
Foto: Sabrina Raap

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