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Verbündeter sein und die verborgenen Ecken Eminönüs

Auf einen Çay mit Dinçer İşgel - Teil 2

Dieses Interview gibt es auch in türkischer Sprache hier!

Der Istanbuler dokumentarische Videokünstler Dinçer İşgel wurde durch seine Instagram-Reels bekannt, die Szenen des alltäglichen Lebens auf der Straße zeigen. Seine Markenzeichen sind das Filmen per iPhone, sein intuitives Vorgehen und die Nähe zu den Menschen. Etwa zwei Jahre ist das erste Gespräch zwischen Maviblau und Dinçer her, in dem es um seine Inspiration und Arbeitsweise und seinen Bezug zum Istanbuler Stadtteil Tarlabaşı ging. Das Interview ist hier zu finden. Nun haben wir Dinçer erneut getroffen, um zu erfahren, was ihn gerade beschäftigt und wie er mit aktuellen Herausforderungen in der Türkei umgeht.

Es ist ein Montagabend Mitte Oktober, das Gespräch findet im Samsa Café in Kadıköy Yeldeğirmeni statt, das Dinçer gerne und oft besucht. Zur Übersetzung zwischen Türkisch und Englisch ist meine Freundin Cansu dabei. Sie erzählte mir vor dem Treffen, dass sie Dinçer schon einmal begegnet sei, als dieser sie auf der Straße ansprach und fragte, ob er sie filmen könne – Er fand, ihr Gesicht habe etwas Interessantes an sich. 

Dinçer setzt sich zu uns an den Tisch, bestellt einen Çay und erzählt, dass er den Tag damit verbracht hat, für den anstehenden 100. Jahrestag der Republik Türkei in Kollaboration mit einer Firma Aufnahmen zu machen, die er zwei Wochen später als Instagram-Reel teilen wird. Er wirkt wenig begeistert und sagt direkt, dass er diese Art von Arbeit nicht sonderlich gerne macht – lieber unabhängig und spontan unterwegs ist. Das überrascht mich nicht. 

Hat sich in den letzten zwei Jahren etwas Grundlegendes an deiner Arbeitsweise geändert oder trifft es noch zu, dass du mit deinem Handy einfängst, was dir unterwegs begegnet? 

Ja, ich arbeite immer noch so. Aber seit etwa einem Jahr ist meine Stimmung, wie bei vielen Menschen in der Türkei, wegen der ökonomischen Situation hier nicht mehr so gut. Darunter leidet meine Motivation, nach draußen zu gehen und das Leben auf der Straße zu filmen. Es fällt mir schwer, die negativen Auswirkungen auf die Menschen zu sehen und einzufangen. An manchen Tagen habe ich gar keine Lust auf diese Art von Arbeit.

Kannst du noch etwas mehr dazu sagen, welche Auswirkungen die Wirtschaftskrise in der Türkei auf dich und deine Arbeit hat? Bringt die Situation dich beispielsweise dazu, mehr kommerzielle Aufträge anzunehmen?

Klar – davor wollte ich nicht mit Marken und Unternehmen zusammenarbeiten, jetzt bleibt mir keine Wahl. Denn das Einkommen durch Instagram reicht längst nicht aus. Und auch wenn ich meine Arbeiten in Galerien ausstelle, verdiene ich damit sehr wenig. Gerade arbeite ich zum Beispiel mit dem neu eröffneten Istanbul Modern Museum zusammen, um die im Museumsshop angebotenen Produkte in Kollaboration mit der Istanbuler Lifestyle-Marke Les Benjamins zu bewerben. Hierfür werde ich Videos drehen, in denen Menschen in der U-Bahn oder an anderen Orten der Stadt die Produkte tragen (Mittlerweile auf hier veröffentlicht, Anm. d. Red.). 

Denkst du darüber nach, etwas ganz anderes zu machen? Welche größeren Projekte beschäftigen dich gerade? 

Letztes Jahr habe ich ein längeres Dokumentarfilm-Projekt gemacht, in dem ich auf der Strecke zwischen Konya und Antalya die Yörüks begleitet und deren Lebensweise dokumentiert habe (Yörüks sind eine türkische ethnische Untergruppe oghusischer Abstammung, die teilweise nomadisch in den Bergen Anatoliens lebt; vom türkischen Wort yürü-, was „laufen“ bedeutet, Anm. d. Red.). Aktuell plane ich, eine Dokumentation über Rom*nja zu machen. Ich selbst gehöre nicht der Rom*nja-Community an, bin jedoch in Edirne aufgewachsen, wo viele Rom*nja leben. Somit habe ich viel von ihrer Lebensweise mitbekommen. Sie gehören zu einer stark unterdrückten Minderheit hier, und haben dabei eine ganz eigene Kultur voller Musik, Tanz und Freude. Man könnte sagen, dass darin eine Art Widerstand gegen die Unterdrückung liegt. Es gibt eine Community in Pınarhisar, Kırklareli (Landkreis im Nordwesten der Türkei, Anm. d. Red.), die ich fast jedes Jahr zum Anlass des Hıdırellez Festivali (Frühlingsfest) besuche. Nächstes Jahr möchte ich dieses zweitägige Fest gerne dokumentieren und für den Film verwenden. Ich suche gerade nach einem Sponsor für das Projekt, das dazu beitragen soll, die Kultur der Rom*nja sichtbarer zu machen und dem negativen gesellschaftlichen Bild auf sie entgegenzuwirken.

Klingt spannend. Bedeutet das, dass du generell Lust hast, dich in Zukunft mehr längeren Filmprojekten zu widmen? 

Ich habe immer davon geträumt, Dokumentarfilme zu machen. Es gibt bereits eine fertige Doku von mir namens „Türkiye´nin İnsanları“ (Menschen der Türkei). Die Doku, die ich jetzt plane, soll etwa 15-20 Minuten lang sein – was im Vergleich zum Instagram-Reel schon ziemlich viel ist. 

Du hast viele Jahre in dem Istanbuler Stadtteil Tarlabaşı gelebt und danach weiterhin das Nachbarschaftsleben dort dokumentiert. Wie erlebst du die Veränderungen dort in den letzten Jahren durch die fortschreitende Gentrifizierung und das Projekt Taksim 360° (großangelegtes Stadterneuerungsprojekt am Tarlabaşı Boulevard)? 

Das Leben in Tarlabaşı war früher von einer sehr lebendigen Gemeinschaft geprägt, in der alle miteinander verbunden waren und sich gegenseitig unterstützten. Durch das Taksim 360° Projekt wurden bereits etwa siebzig Prozent der Einwohner*innen des Stadtteils gewaltsam umgesiedelt. Dazu wurden die Einwohner*innen durch die Eröffnung mehrerer großer Hotels und Museen gezwungen, ihre Häuser zu verlassen. Sie bekommen dann neue Wohnungen in Stadtteilen weit außerhalb des Zentrums. Es geht hierbei darum, die Nachbarschaftskultur von Tarlabaşı zu beseitigen und die Menschen voneinander zu trennen. Die Situation vor Ort ist sehr prekär. 

Wie gehst du mit der Situation um?   

Ich besuche Tarlabaşı noch immer regelmäßig und ich versuche, Verbündeter zu sein. Die Menschen in Tarlabaşı haben kaum Verbündete. Die Nachbarschaft hat eine lange Geschichte von Minderheiten, die als Opfer von neoliberaler und rassistischer Unterdrückung in ihrem Kampf vollkommen alleine sind. Beispielsweise haben Geflüchtete hier in der Türkei viele Gegner*innen, von denen sie für die wirtschaftliche Lage des Landes verantwortlich gemacht werden. Es gibt für die Bewohner*innen von Tarlabaşı oft keine andere Möglichkeit, als sich der Kriminalität zuzuwenden, um über die Runden zu kommen.

Auf Instagram teilst du manchmal Spendenaufrufe für von Armut betroffene Familien in Beyoğlu. Verstehst du dich selbst mehr als Aktivist oder als Videokünstler? 

Ich mag es nicht, mich selbst zu definieren. Aber natürlich gibt es einen aktivistischen Aspekt in dem, was ich tue. Und ich würde sagen, dass die politische Dimension mir wichtiger ist als die künstlerische. 

Warum hast du dich für die Sprache des Filmens entschieden, um das Leben der Menschen zu zeigen?

Es geht mir darum, menschliche Emotionen einzufangen und zu vermitteln. Nicht alle Menschen lesen viel oder schauen sich lange Filme an. Ich halte die kurzen Videos für die beste Art, Emotionen zu transportieren und für alle zugänglich zu machen. 

Wie stehst du zu Menschen wie Sam Youkilis (@samyoukilis), der einen ähnlichen Stil hat und auch ein bekannter Instagram-Künstler ist: Inspiration oder Konkurrenz?

Vor fünf Jahren hat Sam Youkilis Istanbul besucht, wir haben uns getroffen und ich habe ihm Tarlabaşı gezeigt. Er kommt aus New York und ist natürlich in mancherlei Hinsicht mit mehr Privilegien ausgestattet als ich: Er kann einfach ins Flugzeug steigen und überall auf der Welt hinreisen. Das kann ich nicht. Aber ich mag seine Arbeit. 

Was macht es für einen Unterschied, als Reisender fremde Menschen und Orte zu filmen oder wie du, die Kultur und Sprache zu kennen? Im letzten Interview meintest du, die gemeinsame Sprache sei beim Filmen nicht wichtig, da das Visuelle im Vordergrund steht. 

Das stimmt – Ich denke, für mich wäre es genauso gut möglich, meine Arbeit woanders zu machen. Denn wenn ich verreise, versuche ich auch, länger an einem Ort zu bleiben, viel herumzulaufen, einheimische Menschen kennenzulernen und die Kultur zu verstehen. Das ist schon wichtig, um Vertrauen aufzubauen. Aber hier in Istanbul denken Menschen leider auch manchmal, dass ich Ausländer bin und fragen mich „Where are you from?“ (lacht). 

Gibt es weitere Zuschreibungen, die dir begegnen? Oder sogar ablehnende Reaktionen?

Manchmal denken Menschen, dass ich reich bin; verweisen beispielsweise darauf, dass ich ein Les Benjamins T-Shirt trage. In Wirklichkeit wurde mir das gesponsert. Ich habe nur vier paar Hosen und kaufe lediglich auf Flohmärkten ein. Auch auf Instagram gibt es manchmal gemeine Kommentare dieser Art. Menschen werden wütend, weil ich unser Land in einer schlechten Situation zeige. Sie sind nationalistisch eingestellt und sagen, ich solle die Türkei nicht schlecht aussehen lassen. 

Im Moment wollen viele junge Menschen die Türkei verlassen und sich in einem europäischen Land ein besseres Leben aufbauen. Siehst du dich selbst in der Zukunft hier, oder denkst du auch darüber nach, woanders zu leben? 

Ich habe selbst viele Freunde, die aufgrund von Queerness oder aus anderen politischen Gründen ausgewandert sind. Ich kann nicht bestreiten, dass es unter bestimmten Umständen sehr schwierig ist, hier zu leben. Aber ich glaube für mich wäre es emotional sehr schwer, woanders zu wohnen. Ich fühle mich stark verbunden mit der Kultur in diesem Land und würde meine Freund*innen und Familie zu sehr vermissen. Ich denke außerdem, dass es wichtig ist, dass auch einige Menschen hier bleiben, um diesen Ort lebenswerter zu machen. Und ich glaube, dass alle irgendwann zurückkommen werden, weil sie es am Ende doch vermissen. Aber ich habe große Lust, herumzureisen und zeitweise woanders zu sein. Irgendwann würde ich gerne eine lange Reise machen, ohne Plan, per Hitchhiking. Dorthin, wohin der Wind mich treibt. 

Heißt das, du möchtest auch langfristig in Istanbul bleiben? 

In letzter Zeit denke ich darüber nach, aus Istanbul wegzuziehen. Die Menschenmassen hier strengen mich an. Ich träume davon, irgendwo auf dem Land zu leben, in einem kleinen Haus, und dort eine Community zu errichten mit Permakultur, Yoga, Workshops. Ein offener Ort für gemeinschaftliches Leben. 

Du hast früher im Theaterbereich gearbeitet. Wie hat dieser Hintergrund deine Arbeit als Videokünstler beeinflusst? Gibt es einen Bezug zu deinem jetzigen Schaffen?

Ich finde, dass Alltagssituationen etwas sehr Cinematographisches an sich haben können. Beispielsweise in Tarlabaşı komme ich mir manchmal vor wie an einem Filmset: Das Licht, die Farben, die Art, wie die Wäscheleinen eingezogen werden… Die Menschen in ihrem Alltag wirken wie Schauspieler*innen in einem Film. Nach solchen Situationen suche ich und rücke sie durch meine Videos in den Fokus.  

Dinçer willigt ein, dass ich ihn spontan am nächsten Tag bei einer Erkundungstour begleiten kann. Er schlägt vor, nach Eminönü zu fahren, eines der ältesten Viertel Istanbuls. Auf der historischen Halbinsel westlich des Goldenen Horns gelegen, zählt Eminönü zu den lebhaftesten und zentralsten Orten der Stadt. 

An der Fährstation in Eminönü angekommen, laufen wir ein paar Minuten und finden uns bereits in einem Labyrinth aus engen Gassen voller Menschen und Ständen wieder. Als wir in eine Seitengasse abbiegen, sind wir plötzlich in einem ruhigen Hinterhof, auf dem es ein paar Bäume, eine winzige Moschee und einen Pide-Laden gibt. Wir trinken einen Çay auf kleinen Hockern in der Sonne, bevor wir unsere Tour durch die verwinkelten umliegenden Gebäude und Passagen beginnen. 

Zahlreiche Treppen werden erklommen, Gänge unter historischen Gewölben durchquert, und stets offenbaren sich erstaunliche Eindrücke: Die unzähligen Stockwerke einer Passage, durch eine marmorne Wendeltreppe verbunden. Lange, strahlend gelbe Gänge, die von Säulen gestützt werden. Wir erhaschen Blicke in kleine Räume, in denen Menschen in die verschiedensten handwerklichen Tätigkeiten vertieft sind. Dinçer erzählt mir, dass in dieser Gegend viele Migrant*innen illegal arbeiten, da die Polizei nicht hierher komme. Er selbst träumt davon, in einer der Passagen einen kleinen Raum als Atölye (Werkstatt) zu mieten. 

Er grüßt Menschen, denen wir begegnen, und wenn wir fragend angeschaut werden, sagt er: “Wir schauen uns bloß um” – was niemanden zu stören scheint. Manche Menschen erkennen ihn von Instagram und sprechen ihn an, worauf er freundlich und bescheiden reagiert. Dinçer bewegt sich in schnellem Tempo umher, sucht mit neugierigem Blick nach Dingen, die ihn interessieren. Er ist begeistert von den Wandfarben und den Lichtverhältnissen, etwa wenn ein dunkler Korridor in einem perfekt ausgeleuchteten Gewölbe mündet. Wenn er etwas Spannendes sieht, ist das iPhone sofort zur Stelle und er scheut keinen körperlichen Einsatz, um die Szene bestmöglich einzufangen. “Ich bin wie ein Dolly” (beweglicher Kamerawagen) lacht er, während er sich beim Filmen dynamisch durch den Raum bewegt. Trotz aller Action wirkt er durchgehend entspannt. Es ist wie ein Balance-Akt zwischen aktiver Neugierde und gelassener Offenheit für das, was um uns geschieht, zwischen stiller Beobachtung und schnellem Reagieren. Die für mich undurchsichtigen Wege kennt Dinçer in- und auswendig. Inmitten all der Eindrücke scheint er ein Gespür dafür zu haben, welche Szenen wirklich visuelles Potential haben. Noch im Laufen teilt er ausgewählte gelungene Aufnahmen in seiner Instagram-Story, andere wandern für spätere Verwendung erstmal ins Archiv. Dinçer hat nichts dagegen, beiläufig gefilmt und fotografiert zu werden. Wenn es jedoch darum geht, für die Kamera zu posieren, fühlt er sich sichtlich unwohl, albert herum und meint, dass er das Gestellte daran nicht mag; er bevorzuge natürliche Aufnahmen und die Position auf der anderen Seite der Kamera. 

Irgendwann landen wir in einem kleinen Café unter einer Kuppel. Die Wände sind mit Secondhand-Kleidern behängt. Außer uns ist fast niemand hier und ich frage mich, wie überhaupt andere Gäst*innen den Weg an diesen Ort finden. Der Blick vom Balkon über die Dächer Eminönüs und den Bosporus ist atemberaubend. Dinçer erzählt, dass er die Räume gerne verwenden würde, um mit seinen Fotos und Videos eine Ausstellung zu machen, am liebsten schon bald. 

Interview und Bilder: Johanna Weisheit