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Einsamkeit in der Millionenstadt

Ein Gespräch mit dem Künstler Ci Demi über sein kürzlich erschienenes Fotobuch Şehir Fikri (Notion of a City) und die transformative Rolle der Fotografie.

„Ich hatte schon immer ein Problem mit dem Wort ‘Wahrheit’. Gibt es ‘Wahrheit’ im Fotojournalismus? Keine Ahnung. Ich habe gemerkt, dass ich überhaupt nicht auf der Suche nach Wahrheit bin. Ich bin nur auf der Suche nach guten Geschichten.“ Eigenartige Kurzgeschichten über eine verfluchte Stadt – so nennt der Istanbuler Fotograf Ci Demi seine Arbeiten. Wir sprechen mit ihm über seinen Weg zur Fotografie, die Beziehung zu seiner Heimatstadt und die Inspiration für seine Bilder.

Cihan kommt nach zwei Fähren und eiligen Schritten etwas gestresst im Fahriye Cafe in Kadıköy an. Er wirkt verletzlicher als auf seinem Profilbild, fast schüchtern. Aber als er zu sprechen beginnt und uns offen und mit warmem Blick begegnet, merken wir schnell: Cihan ist verpflichtet, fast besessen davon, seine Heimatstadt zu erkunden und zu fotografieren. Wir können es nur bewundern, diese kompromisslose Schamlosigkeit, die man nur erreicht, wenn man genau weiß, warum man etwas macht, unabhängig davon, ob andere Menschen verstehen, was man tut. Das versteht man wohl unter Leidenschaft.

„Als ich Fotografie entdeckt habe, war ich Copywriter in einer Werbeagentur und habe dabei kaum die Wohnung verlassen. Ich war geschieden, depressiv und wollte nur alleine sein.” Ein Tiefpunkt in seinem Leben, aus dem er es fast nicht wieder heraus geschafft hätte – und mit dem er heute offen umgeht. “Als ich dann von meinem Chef einen Bonus bekam, habe ich das Geld für das teuerste ausgegeben, was mir eingefallen ist: eine Digitalkamera. In dem Moment beschloss ich, Fotojournalist zu werden – frag mich nicht, warum. Fotografie hat mich wieder mit dem Leben verbunden und mir einen Sinn gegeben. Ansonsten wüsste ich nicht, wo ich heute wäre.” 

Er erzählt uns, wie ihn die Kamera wieder aus dem Bett und in die Welt hinaus gezogen hat, wie die Momente, die er erlebt und festgehalten hat, ihn wieder in die Wirklichkeit zurückgeholt haben. “Bevor ich die Kamera hatte, bin ich nie vor die Tür gegangen und seitdem ich fotografiere, gibt es keinen Tag, an dem ich nicht draußen unterwegs bin.” Die Notwendigkeit des Schaffens ist für ihn ein  Akt, um sich selbst zu transformieren. Die Einsamkeit ist dabei zum Filter geworden, mit der er die rasend schnelle, chaotische und lärmende Stadt betrachtet: „Einsamkeit ist für mich zur Lebenseinstellung geworden. Aus dieser Haltung heraus jage ich auf den Straßen nach Motiven, die unheimlich sind, eigenartig, eine gewisse Spannung haben. Ich suche nach der Spannung, dem ‘irgendwas stimmt hier nicht’. Aber was? Meine erste Serie hieß ’Signs that everything is going wrong.’” In ein- bis dreijährigen Serien kuriert er seine Momentaufnahmen. Die Titel klingen wie Poesie:  “Dark Blue Doors And Good Intentions” (2020 – 2021), “I Won’t Be Upset If You Forget Me” (2019 – jetzt) oder “Will the World End in the Daytime (2017-  2019). Mit “Şehir Fikri (Notion of a City)” fasst er seine Bilder zum ersten Mal in einem Fotobuch zusammen. „Ich mag es, mit einem Ziel rauszugehen. Meistens komme ich nur mit 8 oder 10 digitalen Fotos zurück. Aber das ist ok. Ich lass mir Zeit. Das ist mein Leben jetzt.“ Feierabend ist immer bei Sonnenuntergang. Dann packt Cihan die Kamera weg und macht sich auf den Weg zurück nach Balat, wo er lebt. 

Bild von Ci Demi

Seine Bilder sehen allesamt aus, als hätten sie zu lang in der Sonne gelegen. Ein Foto aus einem fremden Leben, was man vielleicht auf dem Boden neben einer Baustelle findet und mitnimmt, aber nie versteht. Staubig vom Dreck der Stadt, aber dennoch delikat. Die Motive transzendieren eine festgelegte Bedeutung, aber die Geschichten, die dahinter liegen könnten, sind unbegrenzt. Pastellig und ausgewaschen, verletzlich, nostalgisch, eine schmerzhafte, fast unangenehme Melancholie in der letztendlichen Un-Verbundenheit mit den abgebildeten Menschen. Die Motive sind ikonisch, minimalistisch, fast illustrativ. Seine Geschichten sind fiktiv; Fabeln mit symbolischen Figuren, die etwas anderes repräsentieren. Die Farbpalette bezieht Ci von italienischen 70er Jahre Thrillern, Giallos genannt, damals als Schund bekannte Streifen über Erotik und Mord.

In ausgerechnet dieser Ästhetik wird die Stadt von ihm nun immer neu inszeniert. An etwas anderem hat er kein Interesse. „Ich bin nicht in der Lage, die Geschichten anderer Leute zu erzählen“, erklärt er über seinem Kaffee, „sondern nur meine eigene. Die Geschichten sind für mich Istanbul. Sie bedeuten mir alles.“ Wir fragen ihn, wie er seine Heimatstadt beschreiben würde, wenn es eine Person wäre: “Istanbul ist für mich ein etwas brutaler, abgefuckter Typ Mitte 30. Er ist zwar ein Arsch, aber hat ein gutes Herz.” 

Cihans Pastell-Ästhetik hat ihm zur Bekanntheit verholfen. Sie funktioniert besonders gut auf Instagram, wo Retro-Filter seit 2010 die digitale Bilderwelt beherrschen. In Bildbearbeitungsapps gibt es unzählige Möglichkeiten, digitale Schnappschüsse alt, verschlissen und analog aussehen zu lassen. Warum tun wir das? Vielleicht, weil wir sonst nicht glauben können, dass der gegenwärtige Moment wertvoll ist. So wertvoll wie unsere Kindheitserinnerungen aus den 80er und 90er Jahren, aufgenommen auf Analogfilm, mit der verzerrten Farbwelt, die sagt: Natürlich hat es nicht wirklich so ausgesehen, aber es hat sich so angefühlt. Die Fotos zeigen die Gegenwart in der Ästhetik der Vergangenheit. „Diese Bilder sind die Nostalgie von morgen“, sagt Ci. „Meine Kindheit kommt in mir auf, während ich die Fotos mache. Ich erkunde die Stadt quasi in der Rolle als Kind und halte da inne, wo mich etwas neugierig macht. Wenn ich mich hingegen als Erwachsener fühle, ist nichts mehr interessant.“ Womöglich ist dies eine Methode, die gewohnte Umgebung neu kennen zu lernen, mit den Augen eines Kindes zu betrachten und dabei die Magie wiederzufinden, die eine Kindheitserinnerung so intensiv heraufbeschwören kann.

Ci Demi hat sich den Hintergrund für sein Portrait, eine Graffitiwand in Kadiköy, selbst ausgesucht.

Ci Demis Kunst ist eine Auseinandersetzung mit dem tiefen Unwohlsein im urbanen Raum; eine Methode, um mit anderen Menschen zu interagieren. Seine Digitalkamera ist kleiner als meine Hand, ich muss lachen, als er sie auf den Tisch stellt. “Wenn ich ein Foto mache, darf die Kamera nicht im Weg sein, keine Mauer darstellen zwischen mir und dem Subjekt. Ich muss schnell sein und unauffällig.” In seinem Fotobuch „Şehir Fikri“, was diesen Herbst erscheint, hat er sich dazu entschieden, alles Lebendige, Mensch und Tier, aus der Millionenstadt zu entfernen …– die Fotografien in “Idee einer Stadt” zeigen dagegen die Spuren, das Danach, das Zurückgelassene. Die Einsamkeit wird zum Charakter der Stadt.

Bild von Ci Demi

Mehr Fotografien und Fotoreihen von Ci Demi findet ihr auf seiner Website und seinem Instagram-Profil. Sein Fotobuch Şehir Fikri (Notion of a City) könnt ihr hier bestellen. Parallel dazu werden seine Bilder gerade im Pera Museum in Istanbul ausgestellt!

Text: Eva Feuchter & Marie Konrad
Redaktion: Marlene Resch
Fotos: Ci Demi / Portraitfotos: Marie Konrad

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