Nach einem nicht enden wollenden März, in dem wir täglich von neuen, erschütternden Nachrichten geweckt wurden, verging der April wie im Flug. Die ersten Frühlingstage, die Berlins Straßen mit einer sommerlichen Wärme erfüllten, hätten unter normalen Umständen die Stadt aus ihrem Winterschlaf geweckt, die Parks, Restaurants, Biergärten und Partys mit neuem Leben gefüllt. Stattdessen ist die Stadt von einer tiefen Stille überzogen und einer Spannung, die von einer aufgestauten Energie zeugt. Die plötzlich überall auftauchenden, roten Gesichter der vielen Jogger*innen können als ein Versuch gedeutet werden, diese Spannung abzubauen, vielleicht auch die immer wieder anzutreffenden Ansammlungen von Jugendlichen, die scheinbar die herrschende Kontaktbeschränkung nicht allzu ernst nehmen.
Aber der große Einfluss der Corona-Maßnahmen auf alle zwischenmenschlichen Beziehungen bleibt bestehen, insbesondere in Berlin: Das Verschwinden des Nachtlebens in einer Stadt, in der Polygamie manchmal mehr verbreitet scheint als Monogamie, bedeutet einen harten Schlag für die Sexualität der hier lebenden Menschen. Die Regeln, welche nur erlauben, zu zweit oder mit Menschen eines Haushaltes auf die Straße zu gehen, stärken ein normatives Familien- und Beziehungskonzepts und lassen allen, die nicht in dieses Ideal passen wenig Raum, Sexualität zu leben.
Ich beobachte, wie die Menschen um mich herum sich auf der Suche nach Nähe in die Sicherheit der digitalen Welt flüchten, in der Flut der Dating-Apps verschwinden, in der Hoffnung, ihre Sehnsucht dort stillen zu können. Aber ja, diese von niemandem erwartete, uns allen unbekannte Situation führt auch beim Online-Dating zu ganz neuen, ethischen Diskussionen: Ist Dating in Corona-Zeiten überhaupt erlaubt? Oder auch: kann man trotz physischer Distanz, Intimität zu einer fremden Person leben?
Als jemand, die unter normalen Bedingungen das Offline-Flirten bevorzugt, war auch ich unwissend, was mich in der Online-Welt erwarten würde. Aber nach kurzem Swipen wurde mir ganz schnell: Es waren tatsächlich gerade alle hier! Von flüchtigen Bekanntschaften, zu engen Freund*innen, bis hin zu meiner Crush, die mir schon in den Prä-Corona Zeiten nicht aus dem Kopf ging, traf ich jede*n und war immer wieder überfordert, wie ich mit den daraus entstehenden Gefühlen umgehen sollte. Die Auswirkungen von Corona zeigten sich sehr eindeutig. Es gab Menschen, die nach Online-Ehen suchten, nach Sexting fragten, um Facetimen aus der Badewanne baten, Menschen die nur schreiben oder spazieren wollten, eine*n Partner*in für Corona-Zeit suchten und noch so vieles mehr… Daneben sah ich in einigen Facebook-Gruppen Beiträge über Trennungen in der Quarantäne, Gefühle von Einsamkeit, die zu Depressionen führten, Gesuche nach einer ernsten, lang andauernden Beziehung, die mit dem eigenen Foto geteilten wurden. Unter diesen zahlreichen Beiträgen häuften sich Kommentare, die aufmuntern wollten und zu Solidarität aufriefen. Ich habe sogar gesehen, dass ein Online-Äquivalent zum Speed-Dating geschaffen wurde, hatte jedoch noch nicht die Möglichkeit, es auszuprobieren.
Und natürlich begegne ich in meinem Alltag auch denjenigen, die – ganz dem Prä-Corona-Rhythmus folgend – ihre Sexualität weiterhin ausleben und damit die Wut von so vielen auf sich ziehen. Das Verhalten wird als respektlos, gar verantwortungslos bewertet und zieht endlose Diskussionen mit sich. Aber je länger sich dieser Zustand zieht, desto unrealistischer scheint es mir, die wild schlagenden Herzen der vielen Singles, allein mit den wilden Tänzen zu einsamen Bässen in ihren Zimmern beruhigen zu können.
Kommen wir nun zu Istanbul: dort sind die Bedingungen um so vieles schwerer. Die schrittweise eingeführten Ausgehverbote, die kaum vorhandenen Parks, die Schließung der wenigen Grünflächen, die Größe der Stadt, die zum Fahrradfahren untauglichen Begegebenheiten, machen es nahezu unmöglich, einander in der Stadt zu sehen. Aber ja, natürlich höre ich auch dort von Freund*innen, die es schaffen, trotz all dieser Umstände, Intimität weiter zu leben. Sicherlich kann man das als moralisch verwerflich betrachten, aber angesichts der immer deutlicher werdenden Prognose, dass die aktuelle Situation sich noch weit in die Länge strecken wird, scheint mir dies etwas vereinfacht. Vielleicht sollte man es den Menschen selbst überlassen, wie und ob sie Berührung und Nähe leben wollen – eine Entscheidung, die letztlich auch eine Frage der psychischen und physischen Gesundheit ist.
Der April 2020 war gleichzeitig der Monat, in den mein 30. Geburtstag fiel, den ich mir schon seit meiner Kindheit als ein große, verrückte Party erträumt hatte. Und wider aller Erwartungen, hatte ich bei meiner Zoom-Geburtstags-Party, die von Cub Coweed gesponsert wurde, dann doch eine unvergessliche Feier. Es war eine Nacht, die sich von Berlin und Istanbul, bis nach Kolumbien erstreckte, voller Drag-Shows, Lipsyncling, Twerks und Poledance. Zudem konnte ich es genießen mit Freund*innen, die unter normalen Umständen nicht zusammengebracht werden könnten, gemeinsam zu sein. Allein in unseren Zimmern tanzend Geburtstag zu feiern, ist in unserem neuen Normal, schnell zu etwas Alltäglichem geworden. Für diejenigen, die in diesen Zeiten auf der Suche nach Online-Partys sind, kann ich übrigens eben dieses neu gegründete Kollektiv Club Coweed wärmstens empfehlen. Mit ihren wöchentlichen Online-Shows, einschließlich DJ-Gästen und Performances, gehören sie meiner Meinung nach zu einer der erfolgreichsten Projekte dieser Zeit.
Text: Irem Aydın
Übersetzung: Derya Reinalda
Illustration: Irem Kurt