Wir arbeiten gemeinnützig. Wenn ihr Maviblau unterstützen möchtet, dann schaut mal hier!

Das İç İçe Festival in Zeiten von politischer Polarisierung und Spaltung

Kraftorte als widerständige Praxis für Communities

„Hoffnung fühlt sich gerade an wie ein leeres Wort. Doch hoffnungslos zu sein wäre mein eigener Tod“, heißt es im kürzlich erschienenen Song „Free“ der Künstlerin Ebow. Dieses Jahr ist sie Teil des İç İçe Festivals, das erste und einzige divers aufgestellte Festival für neue anatolische Musik in Deutschland. Mit diesen Lyrics gibt sie die Stimmung kurz vor der vierten Runde des İç İçe Festivals, das am 15. Juni 2024 im Festsaal Kreuzberg stattfindet, treffend wieder.

Ein Festival zu organisieren, fühlt sich dieses Jahr für das İç İçe Team schwermütig an. Doch es ist kein unbekanntes Gefühl und kommt seit 2020 durch den rassistischen Anschlag in Hanau, 2023 wegen des verheerenden Erdbebens in der Türkei und Syrien, und dieses Jahr durch innenpolitische Konflikte und eine immer stärker werdende rechte Gesinnung in der deutschen Gesellschaft immer wieder auf. Das Leben im Dauerkrisenzustand drückt die Stimmung, Festivalvorfreude fühlt sich fehlplatziert an.

Weitermachen in politischen Krisenzeiten

Warum also weitermachen mit dem İç İçe Festival? Ich treffe Melissa Kolukısagil, Initiatorin und Kuratorin des Festivals, Aphroditi, Kommunikationsmanagerin, und Mehmet, technischer Leiter des Festivals auf der Terrasse des bUm – Raum für solidarisches Miteinander in Kreuzberg, um dieser Frage nachzugehen. Es ist frühlingshaft warm. Am Paul-Linke-Ufer sitzen Menschen am Kanal, die sehnsüchtig auf die Sonnenzeit gewartet haben, mit ihren Freund:innen, Snacks und Getränken. Es ist ausgelassene Stimmung.

Im İç İçe Team ist die Stimmung durchmischt. Sie bewegt sich zwischen der Sorge vor politischer Zuspitzung und der Besinnung auf die geballte Stärke von Communities, die gerade in diesen Zeiten Kraft gibt. „Viele aus den migrantischen Communities spiegeln uns zurück, dass sie aufgrund der aktuellen Lage keine Lust mehr haben zu feiern, sich entfremdet von sich selbst fühlen“, erzählen Melissa und Mehmet und fügen hinzu, dass sie diese Gefühle teilen. Gleichzeitig sei das Vertrauen in die Communities so groß, dass es heißt: Gerade jetzt brauchen wir das İç İçe Festival, damit wir uns Zelle um Zelle schützen und Kraft schöpfen können. Deshalb steht die vierte Runde des Festivals auch unter dem Thema „Kraftorte und Hoffnung“.

Kraftorte und Hoffnung

„Was die Leute in den vergangenen drei Jahren mitgenommen haben, ist vor allem Wärme, Wertschätzung und dass sie sich gesehen fühlen“, sagt die Festivalinitiatorin. „İç İçe ist ein Ort, den wir gesucht und gefunden haben“, spiegeln viele Festivalbesucher:innen dem Team zurück. Dabei gehe es nicht um identitätspolitische Repräsentanz. Identität, so Aphroditi, sei vielmehr ein Gefühl, das gelebt wird und lässt sich, wie auch das İç İçe Festival, nicht in Begriffe und Kategorien einschließen. Wo Musik ist, braucht es nicht immer Worte.

Der Zuspruch der Communities motiviert das Team intrinsisch, um weiterzumachen und zeigt: Das Festival wird seinem Ziel und Anspruch gerecht, einen Ort der Sicherheit in diesen politisch sehr polarisierten Zeiten zu schaffen und geht damit weit über eine reine Entertainmentplattform hinaus.

Gleichzeitig beobachtet das Festivalteam, wie gegen Kulturschaffende aus ihren Communities durch gesellschaftliche Konfliktlinien, die beispielsweise den Krieg in Gaza betreffen, staatliche Repressionen gerichtet werden. Diese Repressionen führen nicht nur zur Einschränkung der Meinungs- und Kunstfreiheit, sondern auch zu Beendigungen ganzer Karrieren ohnehin schon marginalisierter Künstler:innen. Auch Spaces, die für İç İçes Communities von großer Bedeutung sind, sind in Gefahr. Das Team organisiert das Festival daher mit dem Bewusstsein, sichere Räume zu erhalten.

Um diese Gratwanderung so gut wie möglich bewältigen zu können, steht das Festivalteam in engem Kontakt mit Communities, die mit dem Konzept von İç İçe verbunden sind. So möchte es herausfinden, welche konkreten Anliegen und Bedarfe es auch mit Blick auf das Festival gibt und diese konzeptionell mitdenken. So ist zum Beispiel auch ein Code of Conduct entstanden, der die Grundlage für ein respektvolles Miteinander auf dem Festival bildet. Für das Team steht fest: Es wird sich mit voller Denkkraft und aus ganzem Herzen dafür einsetzen, dass İç İçe weiterhin ein Raum bleibt, in dem sich Menschen in unsicheren Zeiten sicher fühlen können. In dem Hoffnung aus der Gemeinschaft geschöpft wird und angelehnt an Ebows Song „Free“ unsere Trauer etwas wert ist.

Was euch dieses Jahr erwartet

Das Programm steht und das Team in den Startlöchern. Auf die Besucher:innen wartet ein abwechslungsreiches Programm, das weit über Musik hinausgeht und Performances, Workshops, Lesungen und Diskussionsrunden einschließt.

Das Programm startet auch dieses Jahr am Vortag des Festivals mit dem Community-Event Biz Bize, das Raum zum Austausch abseits der Erwartungen der Dominanzgesellschaft bietet und bei dem Teammitglied Kaya auch dieses Jahr wieder mit seiner Musik den Staub im Körnerpark Neukölln zum Aufwirbeln bringen wird.

Am Folgetag geht es mit dem Hauptevent weiter. Das Publikum darf sich wieder darauf freuen, von den vielen verschiedenen Facetten neuer anatolischer Musik umwoben zu werden und sich solidarisch zu verweben.

Um den Solidaritätsgedanken auch materiell zu leben, gibt es beim İç İçe Festival eine Sozialticketstruktur, bei der Menschen, die sich den Normalpreis finanziell nicht leisten können, ein vergünstigtes Ticket bekommen können. Denn „İç İçe soll für so viele Menschen wie möglich zugänglich sein und bleiben“, betont Melissa.

Text: Tuğba Yalçınkaya

Fotos: Marie Konrad