Ich bin – wie viele andere – Deutschtürkin: Mein Vater ist Türke, meine Mutter Deutsche. Erst neulich fügten sich Puzzleteile aus der Geschichte meiner türkischen Vorfahren zusammen und ich stellte fest, dass das „Deutsche“ nicht erst mit der Hochzeit meiner Eltern das türkische Schicksal meiner Familie sprengte. Seit dem ersten Weltkrieg tauchen immer wieder deutsche Spuren in den Nachlässen meiner Urgroßväter auf – wie flüchtige Berührungen in der Zeit. Sie sind Zeugnisse dafür, dass die beiden Länder seit über einhundert Jahren vielseitiger verknüpft sind als mir bewusst war.
Wenn meine Babaanne – oder Bababi, wie meine Schwester und ich sie seit jeher nennen – die Haustür öffnet, weht einem zögerlich der Geruch von alten Möbeln, Mottenkugeln und jahrelang sorgfältig in Truhen aufbewahrten Stoffen entgegen. Die Wohnung ist ein bisschen düster; selbst wenn die schweren, roten Fenstervorhänge praktisch nie zugezogen sind, hängt ihre Präsenz wie samtenes Blei in den Räumen. Das dunkle Parkett knarrt unter den Schuhen („bitte, zieht sie nicht aus!“), die glattgestrichenen und entstaubten Teppiche sind bereits kräftig ausgeblichen.
Meine Bababi hat mit ihren 93 Jahren ein ganz schön lautes Stimmorgan, knallrot lackierte Fingernägel und diesen extrem aufrechten, stolzen Gang. Wäre sie eine kleine und zerbrechliche Omi mit schütterem weißem Haar – wie es sich für eine Über-90-Jährige eigentlich gehört – hätten ihre Räume etwas Unheimliches. Ja, würde ihre beherrschende Präsenz nicht die Atmosphäre in ihrer Wohnung deutlich dominieren, oder wäre man allein in der Wohnung, würde man dem Flüstern der Vergangenheit horchen: dem lauten Ticken der hölzernen Wanduhr, dem Knistern von uralten Objekten, die ordentlich verstaut in Schränken und Regalen lauern, und dem Verblassen der Farben, die sich in die Fasern trockener Leinwände gefressen haben.
Inmitten dieser gesammelten und aufs Strengste sortierten Antiquitäten kann man den Spuren deutsch-türkischer Vergangenheit folgen.
Der “Kapitän zur See”
Eine dieser Spuren führt zu meinem Urgroßvater Admiral Arif Paşa. Er lebte zur Zeit des ersten Weltkrieges und war als Albay (Kapitän zur See, damals Miralay) Oberbefehlshaber der Osmanlı Donanması (osmanische Marine, früher Donanma-yı Humâyûn). Wahrscheinlich ist er vor dem Krieg kein großer Fan der Deutschen gewesen – er sprach sehr gut Französisch und hatte vor seiner Karriere in der Osmanlı Donanması in Frankreich auf einer Militärakademie studiert.
Mein Urgroßvater Arif (1871-1934).
Kurz zur geschichtlichen Bühne, auf die wir uns mit ihm begeben:
Mit einem geschickten Coup 1913 gelingt es den Jön Türkler (Jungtürken), einer nationalistisch-konservativ-liberalen politischen Bewegung von Bürokraten und Intellektuellen, die Macht im osmanischen Reich an sich zu reißen. Sultan Mehmed V., der das Reich offiziell regiert, ist lediglich eine Marionette in den Händen der Jön Türkler. Meine Urgroßoma würde ihn später in ihren Erzählungen als pinpon („alter Kauz“) bezeichnen. Mit ihrer Organisation (zeitweise Partei) Ittihat ve Terraki Cemiyeti (Komitee für Einheit und Fortschritt) haben sie im „kranken Mann am Bosporus“, wie die Europäer das bröcklige Osmanische Reich betiteln, mit einer Reihe von Krisen zu kämpfen. Innenpolitisch schreien im Vielvölkerstaat immer mehr Separatisten nach Freiheit. Außenpolitisch streiten sich die imperialistischen Mächte Europas schon darum, wie sie die Kuchenstücke der osmanischen Territorien am besten aufteilen. Den Jön Türkler ist ihre politische Isolation durchaus bewusst. Sie sehen den Ausweg darin, wieder möglichst eine Hauptrolle auf der politischen Bühne zu ergattern. Nachdem die Franzosen ein Bündnis ablehnen (die sowieso mit dem verfeindeten Russland verbündet sind), wenden sie sich an die Deutschen, und unter heller Begeisterung – sowie hinter streng verschlossenen Türen – wird am 2. August 1914 ein Verteidigungsbündnis geschlossen. Federführend ist hier Enver Paşa, Kriegsminister und einer der Großen in der Jön Türkler Bewegung.
Was passiert zu dieser Zeit auf deutscher Seite?
Enver Paşa und Souchon denken sich einen Streich aus
Unter dem Kommando von Wilhelm Anton Souchon, dem Vizeadmiral der kaiserlichen Marine, liefert sich das Deutsche Kaiserreich gleich zu Beginn des Krieges 1914 im Mittelmeer heftige Gefechte mit Großbritannien und Frankreich. Nach einer rasanten Verfolgungsjagd durch die britische und französische Flotte zieht sich Souchon am 10. August in die Dardanellen zurück, und nach Verhandlungen mit Enver Paşa läuft er mit seinen beiden Kriegsschiffen Goeben und Breslau in Istanbul ein. Großbritannien und Frankreich fordern daraufhin die Auslieferung der Deutschen. Um dieser Bredouille zu entgehen, denken sich Enver Paşa und Souchon einen Streich aus: Die Osmanlı Donanması „kauft“ diese beiden Schiffe samt Besatzung auf, Goeben wird kurzerhand in Yavuz Sultan Selim (kurz: Yavuz) umbenannt, und Breslau in Midilli. Indem der deutschen Besatzung auch noch Fes auf den Kopf gesetzt werden, verleibt sie sich die osmanische Marine postwendend ein. Obendrein wird Souchon zum Vizeadmiral der Osmanlı Donanması ernannt, was meinem Urgroßvater überhaupt nicht gefallen haben dürfte, denn damit nimmt er seinen Platz ein.
Ein Bild des Wilhelm Anton Souchon, das er wahrscheinlich zu Bayram 1916 verschenkte.
Führen wir also die verschiedenen Schicksalsfäden zu Beginn des Ersten Weltkrieges zusammen und kommen zurück zu meinem Vorfahren. Mein Urgroßvater rutschte mit der Ernennung Souchons auf den zweiten Platz und wurde zum Komodor und 2. Admiral der türkischen Flotte. Man muss dazu sagen, dass sich die Marine zu seiner Zeit in einem bemitleidenswerten Zustand befand, und wie das Osmanische Reich selbst an allen Ecken und Enden bröckelte. Die gesamte Armee wurde ordentlich von den Deutschen subventioniert. Gezwungenermaßen musste mein Urgroßvater daher mit seinem neuen „Waffenbruder“ Souchon zusammenarbeiten. Die beiden Schiffe Yavuz und Midilli waren es schließlich, die das Osmanische Reich ins Kriegsgeschehen rissen: Souchon bombardierte mit ihnen die (damals russische) Hafenstadt Sewastopol im Schwarzen Meer. Am 11. November 1914 befand sich das Osmanische Reich mit Russland, Frankreich und Großbritannien im Krieg.
Mein Urgroßvater, wahrscheinlich 1918 auf der Yavuz.
Der Kontakt bleibt
Bis zum Ende des Krieges benutzte das Deutsche Kaiserreich die Osmanlı Donanması für seine Zwecke im Mittelmeer und dem Schwarzen Meer. Die Niederlage 1918 hinderte meinen Urgroßvater aber nicht daran, den Kontakt zu seinen früheren deutschen „Waffenbrüdern“ aufrechtzuerhalten. Denn zwischen ihm und Souchon sowie anderen Kapitänen und Offizieren der deutschen Marine muss noch reger Briefwechsel geherrscht haben, wie die Briefe in den Schubladen meiner Babaanne zeigen.
Wahrscheinlich ist mein Urgroßvater sogar in Kiel gewesen: Denn auf einem Bild, das im Wohnzimmer meiner Babaanne hängt, hat Prinz Heinrich von Preußen eine Widmung an ihn gekritzelt. Außerdem erhielt er das Eiserne Kreuz. Das Schiff Yavuz händigten die Deutschen nach dem Krieg meinem Urgroßvater aus und zogen sich somit aus der Osmanlı Donanması zurück. Midilli war im Rahmen des Krieges untergegangen.
Ein Geschenk des deutschen Kapitäns Lorey (1915/16).
Hier ein Gruß Souchons auf Deutsch, noch zu Kriegszeiten (1916).
Eine Weihnachtskarte nach dem Krieg (1929), in der Souchon an die gemeinsame, scheinbar aufregende Zeit erinnert und zum Besuch in Hamburg auffordert – diesmal auf Englisch (vielleicht war das Deutsch meines Urgroßvaters bereits etwas eingerostet).
Ein Gemälde mit persönlicher Widmung Prinz Heinrichs (1917) mit den Worten „zur Erinnerung an seinen Aufenthalt in Kiel“.
Der geschäftstüchtige Händler
Gehen wir ein paar Schritte weiter in der Zeit und werfen noch ganz kurz einen Blick in das Leben meines anderen Urgroßvaters, der eine komplett andere, vielleicht gegensätzliche Rolle in der Geschichte deutsch-türkischer Beziehungen gespielt hat.
Mein Urgroßvater Hasan, wahrscheinlich 1950er Jahre.
Dieser wächst in Navruz auf; einem winzigen, unscheinbaren Dorf in der Provinz Çanakkale. An einer Sache sind die Felder rund um das Dorf in den Kaz Dağları (Ida-Gebirge, wörtlich Gänseberge) zu der Zeit allerdings alles andere als arm: Tütün – also Tabak.
Ausschnitt aus der Sammlung bunter Zigarettenpapiere meines Opas.
Die neue Kultdroge
Und Tabak ist damals seit Einführung der maschinellen Zigarettenproduktion Ende des 19. Jahrhunderts vor allem in Deutschland sehr gefragt und wird damit für quasi jeden erschwinglich. Immer mehr Menschen wollen diese Kultdroge konsumieren. In der Weimarer Republik kommt die Zigarette auf ihren Höhepunkt: In den 30ern wird Deutschland weltweiter Meister des Tabakimportes und im Jahr 1936 verbraucht jeder Einwohner durchschnittlich 572 Zigaretten pro Jahr.
Mein Urgroßvater Hasan Bodur muss ganz schön geschäftstüchtig gewesen sein, denn er brachte es von der Feldarbeit in den 50er Jahren zu einem erfolgreichen Geschäftsmann. Die meisten seiner Exporte gingen nach Deutschland. Dabei reiste er regelmäßig nach Istanbul, dem Knotenpunkt für Handel in alle Welt. Als Dörfler vom Land konnte er sprachlich nicht mit der „kulturellen Elite“ Istanbuls mithalten und arbeitete deshalb viel mit deutschsprachigen Gayrimüslimler zusammen – osmanisch für „nicht-muslimische Minderheiten“.
Eine Postkarte aus Berlin (1938) an meinen Urgroßvater Hasan (mit dem Versuch, sich auf Türkisch auszudrücken).
Sein Sohn (und mein Opa) machte erst mit dem Tabakgeschäft weiter und ging dann zu getrocknetem Gemüse über, das in seiner Fabrik verarbeitet und päckchenweise nach ganz Europa verschickt wurde – am meisten nach Deutschland. Auch er konnte kein Deutsch, reiste aber regelmäßig nach Deutschland und sprach mit seinen Geschäftspartnern hauptsächlich Französisch, was zu dieser Zeit die dominierende Sprache in Europa war.
Mein Opa Mehmet (2. Von links) und meine Oma (3. Von links) bei einem Geschäftsessen in Berlin mit deutschen Geschäftspartnern (1954).
Zurück in die Gegenwart
Machen wir hier einen Sprung zurück in die Gegenwart. Nach einem Tauchgang in die Vergangenheit bei meiner Oma fühle ich mich immer etwas müde, als hätte ich wirklich eine lange Reise hinter mir gehabt. Vielleicht ist es aber auch der Geruch der Mottenkugeln, der mich schläfrig macht. Zurück im modernen Istanbuler Straßenverkehr kommt mir dann der Gedanke: Scheinbar fanden sich Türken und Deutsche noch nie besonders schlimm. Stimmen die Ziele überein, sind kulturelle und sprachliche Barrieren plötzlich wie weggewischt. Muss dafür immer ein gemeinsamer Feind oder ein wirtschaftliches Interesse als Ziel im Vordergrund stehen?
Der Artikel hat keinen Anspruch auf historisch-wissenschaftliche Vollständigkeit, da er auf Nachlässen, Familienerzählungen und Eigenrecherche basiert.
Vielen Dank an Merve Tekgürler für den historischen Faktencheck und an meinen Vater für die Recherche in die Vergangenheit.
Weiterführende Literatur: Zürcher, Jan E. (2014). Turkey: A Modern History. IB Tauris.
Text & Bilder: Yasemin Bodur