Während meines Aufenthalts in Istanbul begegnete ich vielen unterschiedlichen Menschen. Menschen, mit denen ich in stetigem Kontakt stand, wie den Arbeitskolleg*innen, sowie den Nachbarn die jeden Tag vor der Haustür saßen, um nach dem Rechten Ausschau zu halten. Zu meinem vertrauten Simitçi und dem Lokantabesitzer hatte ich ebenfalls schnell ein ähnlich inniges Verhältnis aufgebaut wie zu meinem Spätibetreiber in Berlin.
Insbesondere einem Menschen begegnete ich jedoch häufiger als allen anderen. Jeden Morgen sah ich ihn in meinem bevorzugten Simitladen. Zwanzig Minuten später erwartete er mich dann bereits in der Sprachschule, wo ich die nächsten vier Stunden unter seiner Aufsicht Türkisch lernen sollte. Wenn ich mittags ins Saray Lokantası ging, konnte ich sicher sein, dass er schon vor mir da war und musste ich am Nachmittag etwas erledigen, begegneten wir uns erneut wieder. Ich traf ihn im Körnerladen, sah ihn beim Schneider, im Steckdosengeschäft und schließlich bei der Gemüsehändlerin, was zur Folge hatte, dass ich mich schnell an ihn gewöhnte, er jedoch trotzdem in diesen Situationen durch seine vielseitige und mannigfaltige Person Neues von sich preisgab. So gab er sich einerseits offen und selbstbewusst, viele Augen auf sich ruhend, in der Mitte eines Raums stehend, aber andererseits auch zurückhaltend, versteckt in einer hinteren Ecke. Mal blickte er mich mit durchdringenden Augen an, in einem anderen Augenblick schweiften seine Augen dann wiederum in die Ferne: Mustafa Kemal Atatürk.
„Atatürk, der Vater der Türken“
Wenn es um den „Vater der Türken“ geht, spricht man gemeinhin von Mustafa Kemal Atatürk. Keine Person ist so sehr mit der Türkei verbunden wie der Staatsgründer der türkischen Republik selbst. Geboren am 19. Mai 1881 im heutigen Thessaloniki, startete er im Anschluss an den Ersten Weltkrieg eine Bewegung, die das untergehende Osmanische Reich zur modernen, uns heute bekannten Türkei transformierte. Er erhielt den Beinamen Atatürk – „Vater der Türken“. Die Entwicklungen, die die Türkei unter seiner Regentschaft erlebte, brachen mit alten Traditionen und Strukturen, öffneten neue Türen und wiesen einem Großteil der türkischen Gesellschaft, der Wirtschaft, hinsichtlich der politischen Verbündeten, der Rolle der Frau, der Schrift, der Musik, der Mode et cetera den Weg in Richtung Westen.
Die herausragende Bedeutung der politischen Person Atatürk nahm ich durchaus wahr. Doch bemerkte ich, dass es noch etwas Anderes gab, das sich für mich nicht erschloss. Meinem Empfinden nach schien nur ich die stete Anwesenheit seiner Person in der Öffentlichkeit wahrzunehmen. Diese Omnipräsenz glitt jedoch auch sehr schnell in meinen Alltag über und ich gewöhnte mich schneller als gedacht an seinen Anblick. Anscheinend hatten die Menschen um mich herum ihr Verhältnis zu dieser Person bereits geklärt – so begegnete ich Menschen, die von ihm schwärmten wie von einem leiblichen Vater. Menschen, die sich seine Signatur durch eine Tätowierung auf dem Körper verewigt hatten und Fahnen mit seinem Porträt schwenkten. Das Verhältnis zahlreicher Türk*innen zum Staatsgründer schien mir zum Teil gar wie eine persönliche Beziehung. Auf der anderen Seite begegnete ich Menschen, für die Atatürk lediglich ein Teil der Vergangenheit und somit der Geschichte des Landes darstellte. Auf einer Überfahrt von Karaköy lernte ich einen jungen Mann kennen, der sich auf dem Weg zu seiner Arbeit zu einem Kaffee in Kadıköy befand. Wir kamen schnell ins Gespräch und er erzählte mir, dass er sich nebenbei in einer kleinen Partei engagierte und eine vollkommen neutrale Position in Bezug auf Atatürk vertrete, welche im starken Kontrast zu der kritischen Einstellung seiner Eltern gegenüber Atatürk stehe. Mit jedem weiteren Gespräch merkte ich, dass fast hundert Jahre nach der Republikgründung dieses Thema kontrovers wahrgenommen wird. Die Geschichte Atatürks ist heute in zahlreichen Biographien und historischen, sowie politischen Abhandlungen festgehalten. Sie unterscheiden sich in ihren Deutungen ebenso wie die Menschen in der Türkei sein Lebenswerk unterschiedlich interpretieren. Da ich mich jedoch nicht auf der Suche nach „Richtig oder Falsch“ befand, wollte ich mich dieser Thematik weiterhin – allerdings ausschließlich als interessierter Beobachter – nähern.
Ankara – vom Dorf zur fünf Millionen Einwohner großen Hauptstadt
Im Rahmen meines Praktikums kam ich schließlich nach Ankara. Zahlreiche Bäume säumten die Straßen, wenig Autolärm war zu hören, die Luft war klar und die Menschen verspürten keine Eile. Mit seinen Fachwerkhäusern im osmanischen Stil, den kleinen Plätzen und den kopfsteingepflasterten Straßen, erinnerte mich die restaurierte Altstadt stark an eines der kleinen Dörfer an der deutschen Weinstraße. Ich fühlte mich tatsächlich wie im sprichwörtlichen „falschen Film“. Trotz der heutigen Größe ist diese Stadt mit ihrer Ruhe und Entschleunigung das komplette Gegenteil von Istanbul.
Dass die zweitgrößte Stadt der Türkei trotzdem die Entwicklung hin zu einer Millionenstadt erfahren hat, verdankt sie in ihren Ursprüngen ebenfalls Atatürk. Er beendete nicht nur Kalifat und Monarchie, sondern verlegte zugleich die Hauptstadt aus strategischen Gründen von Istanbul ins Landesinnere. Eines Mittags wollte ich schließlich meiner Neugier nachgehen und mir mein Bild von Atatürk machen, so wie es im Anıtkabir projeziert wird. Das Anıtkabir im Herzen Ankaras – „Grabdenkmal“ und Mausoleum Atatürks – ist bei jedem in der Türkei Lebenden und auch weit über die nationalen Grenzen hinaus bekannt. In einem grünen Park gelegen, beeindruckte mich das neoklassizistische Gebäude auf den ersten Blick. In deutscher Sprache erfuhr ich über den Audioguide an zahlreichen Stationen Etliches über den Baustil des Geländes, die Verbindung zur türkischen Republik und letztendlich auch über Atatürk. Jedes architektonische Detail steht mit dem Staatsgründer, den Werten, Zielen oder der Vergangenheit der Republik in Verbindung. Die Statuengruppe am Beginn des “Löwenwegs” soll durch die männlichen Figuren des Lehrers, des Bauern und des Soldaten die Gesellschaft symbolisieren und zugleich wichtige Werte wie Bildung und Nationalstolz vermitteln. Die mir fremde Art des Personenkultes wurde durch die Informationen an den einzelnen Stationen immer beeindruckender.
Auf dem Außengelände sowie dem Inneren des Museums wird die Lebensgeschichte Atatürks eng mit der Gründungsgeschichte der türkischen Republik verbunden. Gründung und Person sind somit unzertrennbar. Als Geisteswissenschaftler versuchte ich die zahlreichen Informationen zu deuten und zu reflektieren. Auf der anderen Seite versuchte ich die Ausstrahlung, die von diesem Ort und von seiner Botschaft ausging, einfach auf mich wirken zu lassen. Ich merkte, dass es genau dieses Gefühl sein musste, was zahlreiche Menschen mit der Person Atatürk verbinden. An unterschiedlichen Stellen auf dem Gelände erfuhr ich durch den Audioguide mehr über die staatstragende Bedeutung, die für mich Atatürk noch größer und noch ferner erschienen ließ. Mich überraschend widmete sich eines der Kapitel plötzlich einer Erzählung über „Atatürk und die Kinder“. Eine Geschichte wurde erzählt, in der Atatürk die Kinder so nah und herzlich in den Mittelpunkt stellte, ihnen seine ganze Aufmerksamkeit widmete, dass auch ich begann, mich von der Geschichte mitreißen zu lassen. Durch diese Darstellung bekam ich einen näheren, greifbaren Eindruck von dem Menschen Atatürk, der mir plötzlich gar nicht mehr so fern erschien.
Angekommen bei Atatürks persönliche Habseligkeiten, war war ich im Grunde schon von den Eindrücken “erschlagen”. Der Audioguide setzte jedoch fort und verriet mir, dass Atatürk auch modetechnisch seiner Zeit weit voraus war. Der Anblick seiner Stiefel, Schirmmützen und Wildlederjacken ließ mich erstaunen. War Atatürk in den 1920er Jahren modetechnisch seiner Zeit voraus, so ist er es auch heute noch. Die Auswahl seiner Kleidung, könnte so, wie sie dort zu sehen war, in hippen Modegeschäften in Istanbul, Berlin oder New York präsentiert werden. Der Einblick in sein Privatleben wurde weitergeführt, sodass ich nicht nur Atatürks Privatbibliothek begutachten konnte, sondern sogar seinen ausgestopften Lieblingshund Foks betrachten durfte.
Als ich das Museum verließ und den Audioguide ablegte, brauchte ich eine kurze Zeit, um die Eindrücke sammeln und ordnen zu können. Der Besuch des Anıtkabir bot mir eine einmalige Chance in die Inszenierung und Wahrnehmung Atatürks einzutauchen. Die Bedeutung, die Atatürk für die Entwicklung der Türkei hat, ist enorm. Mit oder ohne Porträt im Büro oder Wohnzimmer: Er ist weiterhin aus dem Alltag vieler Türk*innen nicht wegzudenken und das Bild, seine Bedeutung und Ausstrahlung, sind immer noch schwer in Worte zu fassen. Als ich zurück in Istanbul war und ich dem Republikgründer hier und dort begegnete, hatte ich nun auch meine persönliche Geschichte, meine eigene Verbindung zu diesem Mann. Jedes Mal, wenn ich ihn sah, wurde mir bewusst, wie sehr weit entfernte Geschichte in die Gegenwart wirkt und wie wichtig es ist, neugierig zu bleiben, Entwicklungen zu hinterfragen und manchmal einfach schweigend das fremd Erscheinende staunend zu beobachten.
Text: Tim-Simon Rahnenführer
Bilder: Fatima Spiecker