Knallrotes Kunstblut, dramatische Musik, lachende Schurken: So sahen die türkischen B-Movies der 60er und 70er aus. Wegen der fehlenden Copyright-Gesetze wurden Remakes von amerikanischen, europäischen und indischen Filmen mit sehr niedrigem Budget gedreht. Und was das Budget nicht hergab, wurde einfach aus dem Original geklaut, montiert und mit dem eigenen Material zusammengeschnitten, egal ob Western, Drama oder Actionfilm. Erdem Yildirim ist von diesen Low-Budget-Filme der türkischen Filmindustrie fasziniert. Er ist Grafikdesigner und lebt in Mainz. Als er die alten Filmplakate in einer türkischen Videothek sah, war er begeistert: Sie wurden zur Inspiration für seine Abschlussarbeit „Sucuk & Champagne“.
In seinem Arbeitszimmer setzt sich Erdem mit der schrägen Ästhetik der türkischen Leinwandhelden auseinander. Gerade guckt er sich eine Szene aus dem Film „Karateci Kiz“ an, wo ein Mann in slow motion von einer Kugel getroffen wird und dramatisch röchelt. „Guck, er stirbt immer noch! Man kennt diese Schauspieler einfach. Das ist für mich so kultig.“
Aber als er seinen Kommilitonen eine ZDF-Doku über diese Filme zeigte, war die Reaktion anders als erhofft: Sie konnten seine Begeisterung nicht nachvollziehen. „Die haben das einfach nicht verstanden“, sagt Erdem, „und dann hab ich mich gefragt: Warum finde ich das geil und die nicht? Warum gefällt mir dieses Trashige?“
Goldene Farbe und Ornamente waren für ihn noch nie befremdlich. Er liebt Hiphop aus den 90ern, die alten türkischen Platten- und Kassetten-Cover und „Unmengen an Filmen – also, Unmengen an sehr schlechten Filmen“.
Daher stellte Erdem sich die Frage, die später auch zur Leitfrage seiner Arbeit wurde: „Beeinflusst Herkunft und Kultur mein gestalterisches Wesen?“ Eine Antwort will er mit „Sucuk & Champagne“ geben, einem Buch über seine persönliche kulturelle Prägung.
„Champagner ist das, was kommt: die Zukunft.“
Sucuk steht in der Türkei für das Grundlegende, das Einfache, erklärt er. Es kommt aus dem Dorf und von dort auch in die Stadt. Ob du reich bist oder arm – Sucuk isst einfach jeder. Die beliebte Knoblauchwurst ist daher für Erdem Symbol für bescheidene Anfänge. Und Champagner? Steht für das Feiern der Oberfläche, das Schicke. Hiphop-Plattencover mit Blingbling, glänzende Autos, der vermeintliche gesellschaftliche Aufstieg: Eine Ästhetik, die durchaus verbreitet ist bei jungen türkischstämmigen Erwachsenen. Champagner ist das, was kommt: die Zukunft.“
So erklärt er auch die Gestaltung des Buchumschlags. „Ich hab das Cover des russischen Esquire-Magazins gesehen und mich daran orientiert. Mein Cover ist natürlich low budget – was aber auch wieder zum Thema passt: Wir versuchen, es glänzend zu machen, obwohl unsere Mittel eher bescheiden sind.“
Das Bild schließt alles ein, was ihn geprägt hat: Verschiedene Themen aus der Popkultur und ein Kissenüberzug aus der Mitgift seiner Uroma. Die gelbrote Decke weist auf seine alevitischen und kurdischen Wurzeln hin. Dramatisch inszeniert wie im Stil seiner Lieblinsgfilme posiert er im Döner-Shirt. Das Motiv passt für ihn: Döner ist aus der Türkei, aber gleichzeitig Teil der deutschen Kultur.
Bis zu seinem fertigen Buch war es aber ein weiter Weg, der ihn zurück zu seinen Wurzeln in den Osten der Türkei führte: Erdems Familie kommt aus Sivas, sein Opa zog Anfang der 60er als Gastarbeiter nach Deutschland, nach ein paar Jahren kamen Erdems Eltern nach. Selbst war er erst ein Mal im Heimatdorf seiner Eltern. ließ er sich erst einmal Fotos aus dem Familienalbum aus der Türkei mitbringen. Die persönlichen Themen verbindet er im Buch mit Genres der Popkultur wie Filmen oder Gaming. Seine digitale Filmpostersammlung, die Familienfotos, historische Dokumentarfotos von Gastarbeitern fließen in seine Arbeit mit ein. Außerdem führte Erdem Interviews mit Künstler*innen, die in verschiedenen Ländern gewohnt haben, um herauszufinden, wie Herkunft und Kultur ihre Arbeit beeinflussen.
Vom Soldaten zum Mediengestalter
Für ihn selbst war es war ein langer Weg zum Grafikdesign. „Ich hab ‘nen komischen Werdegang“, erzählt Erdem. Er war nicht der beste Schüler, wollte ursprünglich Berufssoldat werden. „Vielleicht habe ich zu viele Filme geguckt“, gibt er lachend zu. Seine Zeit bei der Bundeswehr war jedoch nicht so wie erwartet. Zwar lernte er dort als Infanteriesanitäter viel, aber wurde auch mit Rassismus konfrontiert. „Bis um vier Uhr nachmittags waren alle Kameraden – danach gucken dich manche nicht mehr an.“ Ein Ausbilder gab sich sogar als Neonazi zu erkennen.
Er beschloss, seinen Kurs zu ändern und kam nach der Bundeswehr durch Zufall zum Design, als er eine Freundin, die Mediengestalterin war, bei der Arbeit besuchte. Nach einer Ausbildung zum Mediengestalter holte er seine Fachhochschulreife nach, um studieren zu können. „Ich hätte nie gedacht, dass ich mal studiere. Niemals!“Jetzt, da sein Buchprojekt fertig ist, kann er die ursprüngliche Frage, ob seine Herkunft und Kultur sein gestalterisches Wesen beeinflussen, für sich persönlich bejahen. „Es ist wirklich von der Person abhängig. Wenn du von vornherein immer alles selbst erledigt hast, hast du eine ganz andere Basis als jemand, der mit 18 erst damit angefangen hat. Elternabend zum Beispiel war etwas ganz anderes für die Immigrantenkids. Wir mussten ja immer mit, weil die Eltern kein Deutsch konnten. Und es ist was ganz anderes, wenn du vom Lehrer nur Anschiss kriegst – oder ob du das auch noch übersetzen musst!“ Weil er schon mit acht Jahren Briefe vom Amt für seine Familie übersetzt hat, kann Erdem auch keine Formulare mehr sehen. Erdem sagt: „Ich sehe mich als beides: deutsch und türkisch. Ich bin auch immer noch der Schwabe, der gerne jedes Mal einen Vertrag hätte. Alles hat seinen Einfluss, alles hat gute und schlechte Seiten.“
„Nichts ist so wichtig, dass du dich zu Tode schuften solltest.“
Gibt es denn Unterschiede in deutscher und türkischer Designästhetik? Erdem blättert durch sein Buch. „Ich glaube schon, dass ich diese obsessive Ordentlichkeit der Deutschen aufgenommen habe. Der Fokus liegt im deutschen Design immer auf der Information. Content is king. Im türkischen Design findet man die Information nicht gleich, es geht eher um Quantität als Qualität: Man will mehr, weil man wenig hat, lieber zu viel als zu wenig.“ Als türkischer Shopbesitzer zum Beispiel will man den Effekt eines Ladenschilds voll ausnutzen. Um sich in die Welt der türkischen Alltagsdesigns zu begeben, empfiehlt Erdem die Facebookseite „Bad Turkish Graphics“. Gestaltung kann auch eine politische Komponente haben, bemerkt Erdem: „Fancy Design in der Türkei wirst du niemals, nicht in drei Millionen Jahren, in der politischen rechten Ecke sehen.“
Und was können deutsche Designer*innen von türkischen Designer*innen lernen? „Die Deadline kann nach hinten verschoben werden!“ Er lacht. „Aber im Ernst: Je gelassener du rangehst, desto besser. Nichts ist so wichtig, dass du dich zu Tode schuften solltest. Aber dann gibt es auch meine deutsche Seite, die fragt: Was sind die Vorgaben? Das ist schon manchmal ein Clinch. Aber es kommen lustige Sachen dabei raus.“ Dafür ist sein Buch mit dem bunten Cover das beste Beispiel.
Text: Eva Feuchter
Fotos: Eva Feuchter (1), Erdem Yildirim (3)
Ein weiteres außergewöhnliches Kunstprojekt ist „İzlenim – Impression” der Fotografiestudentin Eda Eriş, die in ihrer Arbeit Malerei und Fotografie in Istanbuls Alltag verbindet. Und auch Paul-Ruben Mundthal hat sich in seiner Arbeit künstlerisch mit Binationalität auseinandergesetzt.