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Von Corona-Hotspots, Verschwörungsmythen und Verantwortung

Auf einen Çay mit Dr. Cihan Çelik

Ein Virus bestimmt die Welt. Wir sind wohl alle überwältigt von dem Ausmaß, das die Pandemie angenommen hat. Was vor einigen Monaten noch wie eine Erkrankung am anderen Ende der Welt klang, bestimmt nun unser aller Leben. Dadurch lernten wir eine neue Welt kennen: Virologen*innen, Patholog*innen und Pneumolog*innen informieren uns tagtäglich im Fernsehen oder in anderen Medien über das Virus und seine Auswirkungen.

Einer dieser Expert*innen heißt Dr. Cihan Çelik und arbeitet am Klinikum Darmstadt als Funktionsoberarzt für Innere Medizin und Pneumologie. Da er selbst auf einer “Corona-Station” arbeitet, bezeichnet er sich gerne als „Frontliner“ und hat im Laufe der letzten Monate zahlreiche praktischen Erfahrungen im Umgang mit Corona gesammelt. Heute spricht er mit uns über seine Erfahrungen mit dem Coronavirus, Migration und Verschwörungsmythen.

Maviblau: Herr Çelik, Ihr Name lässt auf einen türkeistämmigen Migrationshintergrund schließen. Können Sie uns ein bisschen von Ihrem Werdegang und der Migrationsgeschichte Ihrer Familie erzählen?

Cihan Çelik: Ich bin ein klassisches Arbeiterkind und stamme aus einer Familie von Einwanderern aus der Türkei. Ich bin sozusagen die dritte Generation. Mein Vater kommt aus Gümüșhane (Schwarzmeerküste) und meine Mutter aus dem ostanatolischen Muș/Varto. Sie kamen in den 70er Jahren hierher und gehören einer Minderheit in der Türkei an. Meinen Eltern war es sehr wichtig, dass ihre beiden Kinder studieren. Ich entschied mich sehr schnell für Medizin und habe in Heidelberg studiert und promoviert. Meinen Berufseinstieg machte ich dann in Wiesbaden und entschied mich für die Lungenheilkunde als Fachgebiet .

Maviblau: Neben Ihren Erfahrungen als Angehöriger einer Minderheit in Deutschland bringen Sie also auch Erfahrungen als Angehöriger einer Minderheit in der Türkei mit. Erlebten Sie in diesen Kontexten öfter Ausgrenzung?

Cihan Çelik: Auf der einen Seite ist die Heidelberger Uni sehr weltoffen, aber auf der anderen Seite auch sehr exklusiv. Es herrscht natürlich eine gesellschaftliche Schieflage. Ich gehörte an der medizinischen Fakultät zu den wenigen Arbeiterkindern, die meisten meiner Kommilitonen waren Akademikerkinder. In meinem Klinikalltag bekomme ich öfter den berühmten Satz „Sie sprechen aber gut Deutsch“ zu hören. Den Patienten werfe ich das nicht vor. Es ist eher das gesellschaftliche Klima, das solche Fragen hervorruft. Ich unterstelle Menschen da keine böse Absicht, wenn sie mich fragen, woher ich komme. In der Türkei wird ja auch oft „nerelisin?“ („Woher stammst Du“) gefragt und oft steckt da ein allgemeines Interesse an der Person dahinter. Ich denke, dass das in vielen Ländern so ist. Ich bin jedenfalls nicht sauer und denke, dass sich auf einer menschlichen Ebene Ressentiments schnell abbauen lassen. Außerdem sehe ich, wie wichtig Menschen mit Migrationshintergrund für den Medizinbereich sind. Aus den Kliniken, ambulanten Pflegestationen bzw. der Pflege sind sie nicht mehr wegzudenken. Ich denke, dass die Medien ihr Augenmerk auch auf diese Vielfalt in diesem Bereich richten können.

Maviblau: Sie sind als „Corona Experte“ aktuell in vielen digitalen Medien (Spiegel, WDR, Hessischer Rundfunk, FAZ etc.) anzutreffen. Wie kam es dazu?

Cihan Çelik: Ich habe gleich zu Beginn der Krise gemerkt, wie viele Desinformationen es in der Öffentlichkeit gibt. Daher verfasste ich einen sehr langen Artikel auf Facebook. Ich sprach darüber, wie nun angemessen reagiert werden könnte und richtete den Fokus darauf, keine Panik zu verbreiten. Der Post wurde sehr oft geteilt. Eine Wissenschaftsredakteurin vom Spiegel kontaktierte mich daraufhin. Da ich an vorderster Front stehe, kann ich über viele Aspekte der Krankheit berichten. Mein Wissen ist weniger theoretisch, denn ich bin kein Wissenschaftler. Ich bin mir außerdem meiner Verantwortung als Arzt bewusst. Ich würde die Öffentlichkeit nicht suchen bzw. meinen Beitrag zur Aufklärung leisten wollen, wenn ich denken würde, dass schon alles gesagt wurde. Ich hatte damals gesehen, dass es ein Vakuum gibt und wollte deswegen darüber sprechen.

Maviblau: Sind Sie mit der Art und Weise, wie die Regierung auf die Krise reagiert hat, zufrieden?

Cihan Çelik: Ich bin kein Anhänger davon, Entscheidungen im Nachhinein als falsch zu bezeichnen. Wir hatten alle keine Ahnung von dem, was auf uns zukommt. Die globale Wissenschaft hat inzwischen einiges herausgefunden, manches Mal widersprachen sich die Aussagen. Aber das ist bei einer Erkrankung, die noch unbekannt ist, normal. Wir müssen uns an die wissenschaftlichen Erkenntnisse halten. Ich bin kein Politiker und kann die medizinischen Risiken nicht gegen die wirtschaftlichen abwägen. Das ist die Entscheidung der Politik. Ich kann auch diejenigen nicht verstehen, die sagen, dass die Pandemie glimpflich verläuft und wir keinen Shutdown gebraucht hätten. Denn ohne die Maßnahmen der letzten Monate hätten wir mehr Infizierte und eine höhere Anzahl an Toten. Wir können froh darüber sein, dass es bei uns nicht so schlimm ist wie in manchen anderen Ländern mit ihren „Corona Hotspots“.

Maviblau: Aktuell gibt es sehr viele verschiedene Verschwörungserzählungen, sowohl in der deutschen als auch in der türkischen Gesellschaft. Wie schätzen Sie diese ein?

Cihan Çelik: Es ist ein Spiel mit den Argumenten. Ein Basteln verschiedener Möglichkeiten. Auf der einen Seite ist da die Wissenschaft, die die neue Erkrankung erkunden muss und gegebenenfalls auch unterschiedliche Aussagen treffen kann. Auf der anderen Seite die „Verschwörungstheoretiker“, die dies gezielt nutzen, um ihre Thesen zu stärken. Gute Wissenschaft arbeitet beispielsweise wie Professor Drosten. Er hat immer wieder die Unsicherheit der aktuellen Erkenntnisse betont. Gute Wissenschaft muss verschiedene Möglichkeiten abwägen und zur Kenntnis nehmen. Verschwörungstheoretiker sind in ihren Argumenten immer todsicher. Entweder ist das Virus tödlich oder harmlos. Sie kennen keine Mitte oder das Zulassen verschiedener Möglichkeiten. Ich denke aber auch nicht, dass alle, die demonstrieren, Verschwörungstheoretiker sind und bin gegen eine Verallgemeinerung. Es gibt auch gute Gründe, manche Beschränkungen zu kritisieren. Allerdings benötigt man eine offene Diskussion und eine gesunde Diskussionskultur.

Maviblau: Inzwischen gibt es im Spiegel auch türkische Nachrichten zum Coronavirus. Wie wichtig ist es, gezielt die migrantische Bevölkerung in ihren Muttersprachen anzusprechen?

Cihan Çelik: Sehr wichtig! Ich kann Ihnen ein Beispiel nennen: Zwei der schlimmsten Fälle, die ich auf unserer Station hatte, waren zwei ältere Türken. Sie hatten sich wegen der Sprachbarriere nicht zum Hausarzt getraut und ihre Symptome wegen begrenzten Zugängen zu Informationen nicht richtig zugeordnet. Viele Migranten-Familien leben in Haushalten, in denen verschiedene Generationen zusammenkommen. Umso wichtiger ist es, dass gerade die älteren von ihnen über die Symptome und Wege zur Hilfe informiert sind. Statistiken anderer Länder (z.B. Norwegen) zeigen, dass sich Migrant*innen auffällig häufig infizieren.

Maviblau: Also ist das Coronavirus wie bei vielen anderen bekannten Erkrankungen auch eine Frage der sozialen Klasse?

Cihan Çelik: Bei vielen infizierten Migranten ist Covid-19 nicht die einzige Erkrankung. Sie haben öfter mehrere Erkrankungen, gerade die ältere Generation der Gastarbeiter*innen, die in Fabriken arbeitete, ist betroffen. Dieses Phänomen zieht sich durch die ganze Welt und je niedriger der sozioökonomische Status, desto schlechter ist die Gesundheitsversorgung dieser Gruppen. Und wir wussten schon vor der Pandemie, dass das Risikoprofil für Erkrankungen wie Herz-Kreislauf-Beschwerden, Schlaganfälle, Depressionen etc. in der hiesigen türkischen Community erhöht ist. Zu Beginn der Pandemie war es eher das gut situierte Ski-Urlauber-Milieu, das erkrankte. Inzwischen zeigt sich, dass es eher vulnerable Gruppen trifft. Ich bin sicher, dass Covid-19 sich in Richtung der sozial Schwachen verschieben wird.

Maviblau: Die „Ethnomedizin“ schlägt bei verschiedenen Patientengruppen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu unterschiedlichen ethnischen Gruppen zum Teil unterschiedliche Behandlungsweisen vor. Würden Sie diese Thesen der Ethnomedizin auch bei der Behandlung von Covid-19 in Betracht ziehen?

Cihan Çelik: Die Ethnomedizin verfügt über interessante Erkenntnisse. Zum Beispiel wissen wir, dass die Medizin noch immer zu stark auf Männer konzentriert ist. Wenn Frauen einen Herzinfarkt haben, beschreiben sie ihre Symptome viel milder als Männer. An dieser Stelle muss der Arzt die Angaben der Frau richtig interpretieren. In der Medizin wird oft auch davon ausgegangen, dass Patienten aus dem mediterranen Raum ihre Schmerzen intensiver beschreiben als deutsche Patienten. Das sind unterschiedliche Arten zu kommunizieren, die werden wir auch bei Covid-19 so erleben, aber auf zellbiologischer Ebene gibt es keine Unterschiede, die der Wissenschaft bekannt wären.

Maviblau: Welche Empfehlungen im Umgang mit der Pandemie geben Sie unseren Leser*innen mit?

Cihan Çelik: Eine Empfehlung ist immer daran gekoppelt, wie verbreitet eine Erkrankung ist. Ab einer gewissen Verbreitung nutzen manche Maßnahmen mehr als andere. Wichtig ist es, dass wir nun den Empfehlungen der Behörden vertrauen, die diese auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse aussprechen. Wir leiden alle gleichermaßen unter den Einschränkungen und ich denke, keiner will keinem etwas Schlechtes. Ich persönlich danke all den Menschen, die in den letzten Monaten mit so viel Disziplin die Einschränkungen ihres bisherigen Lebens ausgehalten und mir damit meine Arbeit erleichtert haben. Danke!

Interview: Ilgın Seren Evişen

Foto: Cihan Çelik (Privat)

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