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Und die Welt steht still

Ich bin in Kabak, einem kleinen Dorf am Meer in Fethiye und blicke vom Berg auf die Bucht hinunter. Eine unfassbar schöne Aussicht. So schön, dass ich ihre Schönheit kaum fassen kann.

Ich versuche die letzten Ereignisse, die sich in der Türkei abgespielt haben und zu der sich immer weitere hinzufügen, Revue passieren zu lassen, irgendwie zu begreifen. Ich denke an die Nacht des 15. Juli, durch die es nun ein Davor und Danach zu geben scheint.

Der 15. Juli ist ein Abend  wie viele Sommerabende. Wir sitzen auf der asiatischen Seite Istanbuls gemeinsam mit Freunden am Moda Strand und sehen dem Sonnenuntergang zu, lassen es uns gut gehen. Gespräche über dies und jenes, Belangloses. Eine Belanglosigkeit, der wir normalerweise keinen wirklichen Wert zuschreiben, bis ihre Unbeschwertheit zum Ausnahmezustand wird. Als ein Freund nach Hause gehen will und einen Blick in die Nachrichten wirft, ändert sich die Lage auf einmal. Beide Bosporusbrücken sind gesperrt. Das Militär ist auf den Straßen. Was geht da vor sich?

Wir entschließen uns schnell, nach Hause zu gehen und uns einen klareren Überblick über die aktuelle Lage zu verschaffen. Auch die Menschen um uns herum, mit denen wir bis noch eben gefühlt in einer Wolke der Unbeschwertheit schwebten, werden unruhig. Die meisten bewegen sich nach Hause. Bevor wir die Haustür erreichen, gehen wir an einem Tekel vorbei. Die Tekelschlange ist lang, auch andere Einkaufsläden sind voll von Menschen. Alle legen sich Vorräte an. Heben sogar vorsorglich Geld ab. Man weiß schließlich nicht, was sich in den nächsten Stunden und Tagen in diesem Land abspielen wird. Die Professionalität überrascht mich fast.

Mit Freunden verfolgen wir gemeinsam in großer Runde die Geschehnisse und versuchen zu begreifen. Zu begreifen, was da eigentlich vor sich geht. Über WhatsApp halten wir Kontakt mit Freunden in anderen Teilen der Stadt und in Deutschland. Welche Informationen haben wir? Stecken wir wirklich inmitten eines Militärputsches? Ich schaue in die Gesichter meiner Freunde. Den einen ist Panik ins Gesicht geschrieben. Andere scherzen herum, versuchen die aufgeladene Situation durch Sarkasmus zu entspannen. Ein Großteil der Gesellschaft in der Türkei kennt die Ausmaße eines Militärputsches schon aus dem letzten Putsch 1980. Ich kenne diese nur aus Erzählungen und Geschichtsbüchern, aus der Ferne. Und bin beunruhigt. Versuche mich, an meinen Freunden zu orientieren. Was hilft uns in einem politischen Desaster mehr? Panik oder Sarkasmus?

Ein Freund sagt mir, dass ich jetzt sofort nach Deutschland soll. Die Situation sei ernst. Wie oft ich diesen Satz in den vergangenen Monaten gehört habe. Aber dieses Mal fühlt es sich anders an. Ist der Moment, vor dem ich mich immer fürchtete, wirklich eingetreten? Ist es Zeit für die ultimative Austrittskarte? Sie zu zücken, austreten wie aus einem Film, der einem nicht gefällt? Während alle anderen gar nicht anders können, als weiterhin mitzumachen, abzuwarten, es auszusitzen? Dieser Gedanke, dass mich dieser eine Aspekt elementar von meinen Freunden hier unterscheidet, mich mit einem Privileg ausstattet, hatte schon immer einen bitteren Beigeschmack. Jetzt wo der Punkt, dieses zu nutzen, fast eintritt, überkommt mich zudem eine unendliche Schwere. Denn ich will nicht gehen. Ich habe mir hier ein Leben aufgebaut, das ich fest in mein Heimatherz geschlossen habe. Aber muss ich, weil ich es kann? Weil jetzt alles anders wird?

Die aktuelle Situation in der Türkei hat neue Dimensionen angenommen. Bis jetzt waren es die Anschläge, die uns zusammenzucken ließen und Angst
machten. Trotzdem versuchte jeder, sein Leben weiterzuführen. Aktuell sieht das anders aus. Die Leute verlassen ihre Viertel nicht, wenn sie nicht müssen, halten sich viel Zuhause auf. Freunde verlieren ihre Jobs, bekommen keine Aufträge. Suchen nach Wegen, im Ausland Fuß zu fassen. Der Alltag steht still.

Ich werfe meinen Blick wieder auf das tiefblaue Meer, auf die idyllische Umgebung. Die Türkei. Ein Land voller bitterer Schönheit und in tiefer Zerrissenheit. Ein Land mit ungewisser Zukunft.

Text: Tuğba Yalçınkaya
Titelbild: Sabrina Raap
Redaktion: Marie Hartlieb

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