An einem regnerischen Vormittag treffe ich Sinan an der Istiklal am Ausgang der Tünel Bahn: “Du erkennst mich an meinem kleinen nutzlosen Schirm” schreibt er noch, bevor er dann vor mir steht. Wir setzen uns gemeinsam in das in der nähe liegende Musikercafé Tünel Çay Evi und bestellen zwei orta türk kahvesi. Im Hintergrund spielt anatolische Musik und vor mir sitzt ein junger Mann mit wuscheligem Haar und verrauchter Stimme: Ein angehender Musiker.
Sinans Vater kommt aus Istanbul, seine Mutter aus dem Saarland. Die ersten Jahre seiner Kindheit verbringt er in der Türkei: “Ich war der kleine blonde Junge, der sich immer im Schulbus in der hintersten Ecke versteckt hat, um die Nationalhymne nicht aufsagen zu müssen”. Nicht aus politischen, sondern aus kindlichen Gründen. Als er 6 Jahre alt ist, entschließen seine Eltern nach Deutschland zu ziehen, denn sie glauben damals, den Kindern dort, in der Nähe von Mainz, eine bessere Ausbildung ermöglichen zu können.
Er ist ein eher introvertiertes Kind: ”Ich war so ein Kind, das mit einem Stock in der Pfütze gerührt hat, um zu sehen was passiert. Wie sich der Kram ändert, der so drin schwimmt”, sagt er. Die Musik ist ein Versuch aus sich heraus, in die vorderen Reihen zu kommen. Mit 14 Jahren fängt er an Gitarre zu spielen: ”Ich wollte am Anfang auch echt nur Mädels beeindrucken” gesteht er lächelnd, aber sehr schnell habe er gemerkt, wie sehr er es genieße. Zwischen seinem 14. und 17. Lebensjahr verbringt er deshalb die meisten Nachmittage damit Gitarre zu spielen, “pseudo- intellektuelle” englische Texte zu schreiben und an verschiedenen Musik-Projekten teilzunehmen. Nach dem Abitur fängt er ein Politikstudium an, das er sehr schnell wieder abbricht. In den letzten zwei Jahren habe er sich jedoch viel stärker auf sein Schaffen konzentriert.
Obwohl es ihm viele abraten, fing Sinan bald an, Songtexte in deutscher Sprache zu verfassen und es funktionierte. Durch den Wechsel in die Muttersprache seines Publikums hätten die Leute angefangen, darauf zu hören was er sage und nicht nur darauf, wie er singe. Es geht ihm darum, Wunden zu finden und gezielt auf diese zu drücken und eben nicht Musik zu machen, die beim Einkaufen stört, was deutsche Musik leider oft sei.
In seinen Songtexten thematisiert er Verlust, Ersetzbarkeit und Rausch, die tägliche Hinundhergerissenheit, generationelle Unsicherheit, vor allem aber die Geworfenheit des Individuums, seine Vergänglichkeit und die daraus resultierende Absurdität des In-der-Welt-seins. Oft versuche er in seinen Texten eine Hülle für ein Gefühl zu geben, die dann Andere mit ihrem eigenen Inhalt ausfüllen könnten.
Der Song bin ich deutsch?, das im Sommer 2017 von sich reden lässt und sogar bis nach Istanbul hallt, hat jedoch eine andere Form und ist für ihn die erste Erfahrung, sich auf eine kreative Art und Weise mit seinen Identitäten und der daraus resultierenden Problematik auseinanderzusetzen.
Es entsteht im Zuge der Proteste in Chemnitz, an denen auch Sinan teilnimmt. Das Lied, das in drei zeitlichen Etappen seine persönliche Geschichte von der Kindheit bis heute erzählt, erreicht in sehr kurzer Zeit unerwartet viele Menschen, die sich in einer ähnlichen Lebenssituation und deswegen auch im Song wiederfinden. Diese kleine aufrichtige und vertraute Geschichte sorgt für Dialog.
Im März kommt das erste Album, aus eigener Produktion, auf den Markt. Er sieht sich noch in einer Etablierungsphase und möchte mit seiner EP KOY eine Visitenkarte abgeben: “Das bin ich, dramatisch und brutal ehrlich!”.
Sinan ist Teil einer neuen Generation von Musikern und wir sind sehr gespannt darauf, was wir in der Zukunft von ihm erwarten können. Aber vorerst begnügen wir uns mit seiner Neuerscheinung KOY und können sie nur wärmstens weiterempfehlen.
Hier eine Kostprobe:
Text: Neslihan Yakut
Fotos: Onur Sekmen
Am 2.5.2019 tritt Sinu bei unserem Poetry-Abend IstanbuLyrik in Istanbul auf. Kommt vorbei!