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Ein Bahngleis, ein Großvater und die erste Grillparty im fremden Deutschland

Auf einen Çay mit Çağdaş Yüksel

Stuttgart, Berlin und Mönchengladbach. Drei Orte, an denen der Film ‘Asyland’ vor zwei Jahren mit vier Geflüchteten sprach, ihr Leben in Deutschland zeigte und das Kinopublikum für 62 Minuten die Perspektive wechseln ließ. Hinter diesem Film steckte Çağdaş Yüksel, ein 23-jähriger Student aus dem Rheinland. Jetzt steht sein zweiter Kinofilm über die erste Generation türkischer Gastarbeiter*innen  in den Startlöchern – doch ob die Finanzierung gelingt, ist noch nicht sicher.

Es sieht nach Regen aus, als wir uns im CO21, dem Coworking Space in der Gladbacher Innenstadt, auf einen Tee treffen. Es ist bereits das zweite Treffen mit Çağdaş, denn im vergangenen Jahr war er noch Erasmusstudent in Istanbul und erzählte mir in Kadıköy von seinem ersten Film “Asyland”.
Heute frage ich ihn wieder nach seinem Debüt. „Das Thema war schon relativ lange da. Seit dem Abi hat es mich ziemlich beschäftigt“, erzählt er mir und beschreibt, wie er mit einem kleinen Team Freiwilliger einfach loslegte. Ziel war, das Thema Asyl in Deutschland auf die Leinwand zu bringen. Manche Szenen zeigen den Alltag in den Unterkünften, manche – teils sehr emotionale – Szenen stammen aus Interviews. Das Publikum kann so den Perspektivenwechsel erfahren, den andere Dokumentationen nicht bieten, da sie über anstatt mit Geflüchteten sprechen. Die Herangehensweise bei ‘Asyland’ mag aus heutiger Sicht naiv erscheinen. Denn mit einem Crowdfunding von gerade einmal 4.000€ kommt man normalerweise nicht weit. „Da war viel Glück im Spiel, aber ich glaube, manchmal kommt es einfach darauf an, loszulegen“, sagt der Nachwuchsregisseur und behielt Recht, denn seine Aktion lockte einen professionellen Kameramann an, der ehrenamtlich den Film unterstützte.

Doch warum investiert ein Student der Sozialwissenschaften so viel Energie in die Produktion von anspruchsvollen Dokumentarfilmen, möchte ich von Çağdaş wissen: „Weil Filme immer recht gesellschaftspolitisch sind. Und gerade in einem Zeitalter, wo alles produziert wird, ist es wichtig auch solche Dinge zu produzieren. Also gesellschaftliche Themen wie Rassismus, Armut, Integration und Migration anzusprechen. Da ist es natürlich von Vorteil, wenn man auch die wissenschaftliche Seite kennt.“ Natürlich gehört auch die Leidenschaft für bewegte Bilder dazu. Çağdaş Yüksel machte erste Erfahrungen bereits durch Praktika beim Fernsehen, bevor er sich dann doch entschied, seinen Fokus auf ein nicht-filmisches Studium zu legen.
Heute ist er zudem noch Inhaber der kleinen Produktionsfirma Cocktailfilms, deren Gründung zunächst nicht geplant war. Doch während der Produktion zu “Asyland” stellte Çağdaş fest, dass allein aus Gründen der rechtlichen Absicherung dieser Schritt nötig wurde.

Erinnerungen der ersten Generation Gastarbeiter konservieren

Jetzt ist die Idee zum zweiten Film ausgereift und ein erster Trailer erfolgreich produziert. Bei “Gleis 11” soll es wieder um das Ankommen in Deutschland gehen. Dieses Mal jedoch nicht aus der heutigen Sicht von Geflüchteten, sondern aus der Sicht der ersten Gastarbeiter*innen in den 60er Jahren. „Es wird hauptsächlich auf die erste Generation hinauslaufen. Es ist wichtig, denen das Wort zu geben, weil sie einfach ganz andere Erfahrungen gemacht haben als die zweite oder meine dritte Generation. Und weil man ihnen eben nicht mehr ewig das Wort geben kann“, beschreibt Çağdaş den Rahmen seines neuen Films. Für die Recherche hat er sich bereits seit Langem in wissenschaftliche Publikationen und sehr ausführliche Interviews eingelesen. Immer auf der Suche nach Zeugnissen aus erster Hand, die die Eindrücke der ersten Gastarbeiter*innen dokumentieren. Danach ging es ihm um die Frage, was diese Personen heute machen. Also hat er sie ausfindig gemacht und selbst erneut befragt.

Im Prinzip ist das wie ein Kaffeeklatsch, also keine Arbeit. Man trifft sich auf einen Kaffee oder Çay und redet zwei drei Stunden über die 60er Jahre und die Ankunft. Es ist total nostalgisch und schön“, berichtet er voller Euphorie.

Es entsteht gerade eine Art kleines Archiv mit Erinnerungen und Eindrücken aus der Zeit des Ankommens im damals noch fremden Deutschland.
Vor ein paar Tagen traf sich Çağdaş mit einem über 80-Jährigen, der 1963 als einer der ersten Gastarbeiter*innen in Deutschland ankam. „Er hatte einen Riesenkoffer mit Zeitungsartikeln, mit Bildern, mit Allem mitgebracht. Er hat sich tagelang vorbereitet und war total aufgeregt. Und er wusste gar nicht, wo er anfangen soll, mir etwas zu zeigen. Das zeigt einfach, dass da so viel Energie drin steckt, die die Leute loswerden wollen. Sie sind so froh, dass jetzt noch einmal einer kommt, der sich dafür interessiert, Schritt für Schritt alles durchgeht, alle Ängste, alle Sorgen.“

Im Trailer zu “Gleis 11” sieht man Jugendliche, welche Geschichten der ersten Generation vortragen. Da ist von der ersten nachbarschaftlichen Grillparty die Rede, bei der die Frage nach der Art des Fleisches, mangels einheitlichem Vokabular, erst zu einer Herausforderung, dann aber zu einem gemeinsamen Lachen wird. Alte Fotos von Zügen sind zu sehen, ein Bahnhof wird eingeblendet. Ob es eine Abschiedsszene oder ein Willkommenheißen ist, bleibt unbeantwortet.
Dass es bei der Reise – sei es aus Flucht vor Gewalt oder der Suche nach Arbeit – immer auch die Seite derer gibt, die schon im Ankunftsland wohnen, verschweigen dabei weder “Asyland” noch “Gleis 11”. „Es wäre falsch, sich nur auf die Zuwanderer zu konzentrieren, denn damit ist die Geschichte noch nicht vollständig“, sagt Çağdaş und berichtet auch von Deutschen, die ihre neuen Nachbar*innen in Empfang nahmen, sie bei Behördengängen und den anderen Widrigkeiten des neuen Lebens unterstützten.

Ein tiefer Einblick auch in die eigene Geschichte

Asyland wurde in Mönchengladbach, Stuttgart und Berlin gedreht. Auch für Gleis 11 sind mehrere Drehorte geplant. So zum Beispiel München, da fast alle Gastarbeiter*innen mit dem Zug von Istanbul-Sirkeci erst nach München kamen. Von dort aus wurden sie auf die gesamte Bundesrepublik verteilt. So auch Çağdaş’ Großvater, der in der Stadt eine Arbeit fand, in der sein Enkel heute an einem Film über ihn arbeitet, Mönchengladbach.
Wie stark der persönliche Anteil an seiner Arbeit ist, schildert der junge Filmemacher so: „In diesen paar Monaten habe ich so viel über meine eigene Familie erfahren wie in den letzten 20 Jahren nicht. Na klar, bei Familienfeiern packt immer irgendwer eine Geschichte aus. Aber so strukturiert an die Sache heranzugehen und Stammbäume zu erstellen, wer wann gekommen ist, ist ja noch mal etwas ganz Anderes.“ Hierbei lernte der Gladbacher Nachwuchsregisseur auch viele Freunde seines Großvater kennen. Diese gaben ihm einen Einblick in das Leben seines Ahnen, den er ohne die Recherche zum Film wohl nie erhalten hätte.
Doch ob sich “Gleis 11” so umsetzen lässt, wie Çağdaş und seine Mitstreiter*innen sich das vorstellen, hängt auch vom späteren Publikum ab. Wie auch bei “Asyland” setzt das Team auf eine Finanzierung mittels Crowdfunding auf startnext.com. Das Ziel liegt jetzt bei realistischen 12.500€, welche zur Hälfte bereits gesammelt sind. Doch der Finanzierungszeitraum endet in wenigen Tagen. „Wir haben die Erfahrung gesammelt und wissen was wir besser machen können“, gibt sich der Regisseur selbstbewusst und hofft, dass er die Gelder für sein spannendes Projekt noch rechtzeitig zusammenbekommt. Denn, so wird auch bei unserem Interview deutlich, die türkischen Gastarbeiter*innen der ersten Generation haben ein filmisches Denkmal verdient.

Erinnerungen auf der einen, Beispiel auf der anderen Seite

Ziel ist es, den Film ins Kino zu bekommen. Allerdings soll es nicht bei der großen Leinwand im Saal mit den roten Polsterstühlen bleiben. Mindestens genauso wichtig sind Schulen und Universitäten für Çağdaş. Denn es ist die junge Generation, der er die Erzählungen der älteren mitgeben möchte. Neben diesem Ziel ist ein weiteres Anliegen, Integration aus der Perspektive der ersten Generation noch einmal neu zu beleuchten. Ein passendes Schlusswort für unser Interview findet Çağdaş dann auch noch: „Ich glaube wir können auch heute noch viel daraus lernen.“

Text: Navid Linnemann
Fotos: Dilek Turan Linnemann

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