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Was kostet die Welt?

“Zukunftsvisionen – was wird aus morgen?” war der Titel eines unser Schreibworkshops im Rahmen des Programms des Mülheimer Heimatministeriums in Kooperation mit dem Kulturbunker Köln-Mülheim e.V., der die Teilnehmenden einlud, ihre eigenen Utopien und Dystopien schreiberisch festzuhalten. Eine Frage, bei der die Welt derzeit gefühlt den Atem anhält. Wie stellt ihr euch die Zukunft vor? Wovon träumt ihr und wovor habt ihr Angst? Einblicke in die Gedanken und Visionen der Teilnehmenden gibt es hier zum Nachlesen.

Aufwachen ist Leo nie schwer gefallen, viel mehr war Einschlafen meistens sein Problem. Heute kommt er nicht aus dem Bett, er schlägt die Augen müde auf und wälzt sich von einer Seite des Bettes zur anderen, einfach weil sein Bett so groß ist, dass er es kann. Die Arme und Beine streckt er in alle Richtungen aus, so dass er einem gestrandeten Seestern gleicht. Es ist nur einer von vielen Vorzügen, die Reichtum mit sich bringt. Leo reibt sich seine Augen, sein Blick streift kurz den blauen Himmel vor seinem Fenster, dann kehrt er diesem den Rücken zu und konzentriert sich auf den 90 Zoll Bildschirm an der Schlafzimmerwand.  

„Guten Morgen, Leo. Hast du gut geschlafen? Heute kommen 3 Pakete für dich an. Es werden 25 Grad.“ Die freundliche Computerstimme begleitet Leo nun schon seit ein paar Jahren durch den Tag und auch wenn er es sich nicht eingestehen möchte, so nimmt sie ihm die Einsamkeit, wenn seine Gedanken abends plötzlich ganz laut werden.  

Es klopft an der Tür. Nicole ist Leos Haushälterin, sie tritt zögerlich ein und balanciert drei Pakete und einen Wäschekorb.  

„Hi“, sagt Leo und wendet seinen Blick dabei nicht vom Bildschirm ab. Er schätzt Nicole dafür, wie gut sie seine Penthouse-Wohnung sauber hält. Putzen tut sie wirklich gut, da kann man nichts sagen. „Die Paket sind kommen.“, sagt Nicole. Sie spricht brüchiges Deutsch und wirkt immer ganz nervös, das macht Leo manchmal ganz wahnsinnig. Sie wohnt doch schon länger hier, wieso beherrscht sie diese Sprache immer noch nicht? 

Würde Leo Nicole zuhören, und ihr dabei einmal in die Augen sehen, anstatt auf den großen Bildschirm an der blassblauen Wand zu starren, würde er vielleicht wissen, dass sie zwei kleine Kinder ernähren muss und ihre Zeit und ihr Geld nicht für einen Sprachkurs ausreicht. Vielleicht würde er dann verstehen, was es bedeutet, sein Zuhause dort zu suchen, wo einem jeder zeigt, dass man fremd ist.  

„Stell sie einfach zu den anderen.“ 

Nicole schiebt die Pakete ächzend in eine Ecke. Zahlreiche Pakete stapeln sich in der Ecke, die müssen dringend alle geöffnet werden. Leo stellt sich einen Wecker für Dienstag. Dieser Schandfleck im Zimmer muss beseitigt werden. 

Frühstück ist die wichtigste Mahlzeit am Tag, das haben Leo’s Eltern ihm Tag ein Tag aus gepredigt. Urplötzlich bekommt er Lust auf Rührei und Speck und einen Obstsalat, vielleicht auch auf frisch gepressten Orangensaft, wie er ihn sich früher gerne gemacht hat. Kurz schwelgt er in den Erinnerungen an einen sonnigen Samstagmorgen, an dem er in die vergilbten Turnschuhe geschlüpft und in aller Frühe zum Obststand gelaufen ist, um ein paar Orangen zu kaufen. Die Sohlen von den Schuhen waren schon so durchgelaufen, dass er den heißen Asphalt unter seinen Füßen spüren konnte. Der Verkäufer am Obststand, Emilio hieß er, hat immer so nett gelächelt und manchmal gab es ein Körbchen Erdbeeren gratis dazu. Orangensaft hat damals nach guter Laune geschmeckt, nach einem warmen Lachen und dem Gefühl, dass alles gut ist. Leo ist sich nicht sicher, wann er dieses Gefühl das letzte Mal hatte. Zwischen teuren Designer-Sneakern und Geschäftsmeetings, zwischen einer Haushälterin und einem Kingsize-Bett – irgendwo dort ist dieses Gefühl verloren gegangen. Während Leo am Anfang noch danach gesucht hat, weiß er jetzt, dass er es nicht wieder finden wird. Es gibt Lücken, die lassen sich nicht füllen. 

Die Liefer-App auf Leos Handy hat ein neues Design, viel übersichtlicher. „Du bestellst, wir liefern. In 10 Minuten.“ Leo verdreht seine Augen. Zehn Minuten. Das ging auch schon mal schneller. Er beschließt für diese lange Lieferzeit kein Trinkgeld zu geben und bestellt sich ein Frühstückspaket von einem Restaurant in der Nähe, natürlich fünf Sterne. Als Getränk wählt er den frisch gepressten Orangensaft, er kostet etwas mehr als der schwarze Tee. Das spielt aber keine Rolle, wenn die Welt für einen nichts mehr kostet. 

Die Sonne scheint ins Zimmer, der Seidenpyjama liegt angenehm kühl auf Leos Haut. Es dauert ganze elf Minuten, bis Nicole in ihrem kratzigen Pullover das Frühstückspaket ins Zimmer bringt.  Ein großer Schluck vom Orangensaft, Leo wartet auf den sonnigen Geschmack. Er kommt nicht.

Das Glas ist halbleer, der Saft etwas wässrig, aber eigentlich nicht schlecht. Trotzdem schmeckt er nach Enttäuschung und nach ein bisschen Wehmut. Es tauchen Bilder auf von einem kleinen Zimmer in einem Studentenwohnheim, in das gerade so Schrank, Schreibtisch und Bett passten. Trotzdem fühlte sich dieses Zimmer so viel größer an, als Leos Penthouse Wohnung es jetzt tut. Die Quadratmeterzahl spielt keine Rolle, wenn man nicht frei ist. 

Er hinterlässt eine schlechte Bewertung für das Restaurant. 

Es ist ein ungewöhnliches Bild, was sich an einem kühlen Dezembermorgen bietet: Leo geht spazieren. Das hat er ewig nicht getan, aber plötzlich hatte er das Bedürfnis bekommen, nach draußen zu gehen. Spazieren findet er eigentlich furchtbar langweilig. Es erinnert ihn daran, als Corona damals ausgebrochen und er ständig am Rhein auf und ab gelaufen ist, weil man nichts anderes tun konnte. 

Leo hält sein Handy fest in der Hand, umklammert es, als würde es ihn vor den Erinnerungen und Gefühlen schützen können, die ihn draußen einzuholen drohen. Er macht ein Foto von seinen Schuhen. „Going for a walk“, schreibt er dazu und lädt es hoch. Dann hat sich der Spaziergang wenigstens gelohnt.  

Sein Weg führt ihn zu einer Bank, sie wurde gerade neu gestrichen. Leos Blick gleitet über den Rhein und für einen kurzen Moment spielen ihm seine Augen einen Streich, als er glaubt das Schokoladenmuseum zu erspähen, aber wo dieses einmal stand, ist jetzt nur noch ein großes Amazon-Lager, was weit in den Himmel reicht. Es hat den Kölner Dom längst von seinem Thron verstoßen und überragt die Stadt, aber es passt wirklich gut zum Panorama, findet Leo. 

Ein paar gelbe Paketwagen überqueren die Deutzer Brücke und brechen die silbergraue Farbgebung der Stadt. Sie passen nicht in diese moderne Kulisse, total oldschool, Paketwagen. Verächtlich rümpft Leo die Nase und schaut zu den Drohnen, die in Scharen über den Rhein fliegen, und dann ausschwärmen, um ihre Pakete abzusetzen. Leo liebt es, den Drohnen dabei zu zu sehen; es erinnert ihn daran, wie er früher die Möwen beobachtet hat, aber von denen gibt es heute kaum noch welche. Vielleicht haben sie sich von dem Lärm oder den Abgasen vertreiben lassen.  

Leos Handy entsperrt sich, er schaut nach wo seine neue Jacke bleibt. Die hat er doch gestern bestellt. Er hat einfach keine Geduld mehr, so lange zu warten. Ein Anflug von schlechter Laune überkommt ihn; er bekämpft sie und bestellt sich ein paar neue Schuhe. Da soll noch einmal einer sagen, dass man Glück nicht kaufen. 

Eine Weile sitzt er noch so da, sein Blick wechselt zwischen Handy und Rhein hin und her und ab und zu bahnt sich die Sonne ihren Weg durch die Wolkendecke.  

Ein junges Paar setzt sich auf die Bank neben Leo, beide haben ihren Blick auf ihr Display gesenkt und obwohl sie zusammen gekommen sind, scheint jeder in seiner eigenen Welt zu stecken.  Der Mann beantwortet E-Mails und sie zeigt ihm zwischendurch auf ihrem Handy irgendwelche Möbelstücke, die sie für einen guten Preis entdeckt hat. 

„Das sind alles Designermöbel, Schatz. 20% auf alles.“ Sie tippt wild mit ihren Fingernägeln auf den Bildschirm, beflügelt von der Vorstellung, wie gut sich dieses cremefarbene Sofa im neuen Wohnzimmer machen würde. 

„Hm.“ Er schaut nicht einmal auf, er muss wirklich dringend diese Mail beantworten.  „Das ist dieser Möbelhändler aus den USA. Der würde sich hier so gut machen. Wieso öffnen die hier kein Lager? Ich versteh das nicht.“ 

„Hier ist kein Platz mehr für neue Lager, Schatz.“ 

„Vielleicht sollte man den Dom endlich mal abreißen, ein bisschen Platz für neues schaffen. Die Stadt könnte echt ein bisschen frischen Wind gebrauchen. Lagerhallen, Shops.“ Sie redet immer lauter, mit überzeugter Stimme.  

Leo schnappt die Gesprächsfetzen auf und merkt, wie er sich kurz erschreckt. Nicht, weil sie vorgeschlagen hat, den Dom abzureißen, der diese Stadt seit Jahrzehnten ausmacht. Sondern auch, weil er sie verstehen kann. Weil er genau diesen Gedanken selbst schon hatte.  Das komische Bauchgefühl, was er am Spazieren gehen so hasst, überfällt ihn wie Fieberkrampf. Er steht rasch auf, alles erinnert plötzlich daran, wie sich alles verändert. Aber Veränderung ist doch gut, sagt Leo sich in Gedanken. Die Dinge müssen sich verändern, kein Grund sich schlecht zu fühlen. 

Sein Blick fällt auf ein abgenutztes Plakat, welches eine Häuserwand ziert. Eigentlich wurden alle Plakate entfernt, aber ein paar traurige Überreste sind übrig geblieben und haften fest an den Fassaden. Ein trauriges Gesicht von einem kleinen, abgemagerten Jungen schaut Leo an. „Spenden Sie für Kinder in Not. Nur 1 Cent macht einen Unterschied.“  

Leo schluckt. Wie lange mag das Plakat dort hängen und was ist wohl aus diesem Jungen geworden? 

Sein Handy vibriert, er schaut drauf. Werbung für das neueste i-Phone. Die Kamera ist noch besser, genau das braucht Leo. 

Text: Veronica Plinke

Illustrationen: Eva Feuchter

Wir danken dem Kulturbunker Mülheim und dem Mülheimer Heimatministerium für die Kooperation, die diese Texte und Illustrationen möglich gemacht hat.

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