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Kalıntılar

– Serap Yılmaz-Dreger

Kalıntılar sind Fragmente, die in Erinnerung bleiben, verschwommen nachwirken oder immer wieder erzählt und neu ausgeschmückt werden. Dabei immer auf der Suche danach, die Lücken zu füllen. An einigen Tagen klappt es besser, als an anderen und immer bleibt die Frage danach: Wo stehe ich eigentlich? Und von wo komme ich?

Mein Neffe heißt Johannes. Er ist vor wenigen Monaten auf die Welt gekommen. Seinen Namen kenne ich schon länger, ich merke nun, dass ich aber gar keinen Bezug dazu habe. Mein Schwager ist Sohn eines verrenteten Pfarrers, in deren Haus an der Kirche in einem kleinen Ort bei Oldenburg die Holzdielenböden knarzen. Als ich zur Trauung mein Kleid überziehe und kaum in die High Heels komme, möchte ich lieber über einen Fliesenboden in einem Halay mitgetragen werden, als alleine unmöglich auf 12cm zum Altar zu laufen. Meine eine Familie ist mittlerweile zu drei Familien geworden. Wir sind gewollt und getrieben von Emanzipation und Freiheit, und ungewollt und gelähmt von Tod und Verlust auseinandergebrochen.

Was ich über Herkunft erzählen möchte, hat auch damit zu tun, dass ich immer wieder neue Orte gesucht, und keine Heimat gefunden habe. Herkunft sind für mich Großeltern, die ich nicht wirklich kenne. Herkunft ist meine Ayfer Hala, die mir abends einen Apfel schält und viertelt. Herkunft ist Neriman Teyzem, die mir beim letzten Besuch selbstgestrickte Patiks in Größe 35 in die Hand drückt. Herkunft ist der Fischbrötchen-Verkäufer in Eckernförde, der nicht weiß, dass ich ihn gerne mit dem Fischbrötchen-Verkäufer am Eminönü betrüge. Herkunft sind Abzweigungen, Entscheidungen und Hoffnungen. Hayırlısı beim Anfang des Studiums in Hamburg, Ankara und Berlin. Hayırlısı, bei der Bewerbung um den ersten Job. Hayırlısı deshalb, weil uns Leid bekannt ist. Hayırlısı, weil du nur hoffen, und nie erwarten darfst. 

Herkunft sind Risiken der Vergangenheit, die meine Eltern und ihre Eltern eingegangen sind. Der mögliche Gewinn: Universitätsabschlüsse, Arbeitschancen, Sicherheit. Der mögliche Verlust: alltägliche Ambiguitäten, zersplitterte Beziehungen, die konstante Frage nach Identität. Dies bedeutet auch, die Trauung meiner Schwester als etwas Schönes zu erleben, und gleichzeitig den Text von „Die Liebe ist Gott“ nicht mitsingen zu können. 

Meine Mutter kam in den 80ern nach Deutschland. Als sie am nächsten Tag aufstand, wollte sie sofort wieder zurück. Es war ihr zu kalt, dabei war sie das aus ihrer Heimat gewohnt. Ein zu kalt, das eventuell nicht nur etwas mit dem Januar in Deutschland zu tun hatte. Den Freitag in derselben Woche lernte sie die Frauen der Stadt beim Koran Lesen kennen. Kommst du aus der Türkei, bist als Gastarbeiter*in da oder als Familienzuzug gekommen und sprichst die Landessprache nicht, sind das deine einzigen Ressourcen. Dein Netzwerk, das vorher da war, dir Dinge erklärt, mit dir fühlt. Dein Netzwerk, das dir den Laden zeigt, in dem du völlig überteuerte Auberginen kaufen kannst. Ob sie glücklich waren? Ja manchmal, in diesen Momenten, wo ein Stück Heimat greifbar war. Ob das reicht? Hayırlısı.

#erinnerungen

#heimaten

#fragmente

J’accuse

Ich klage alle an, die am 19. Februar 2020 ein Kölsch in der Hand hielten, obwohl sie wussten, dass Menschen starben und andere Menschen sich versteckten und jede Tochter, jeder Sohn, jede*r Partner*in in Hanau eine WhatsApp Message bekam, er und sie solle aufpassen und bitte schnell nach Hause kommen. Ich klage die Personen an, die auf Instagram ihre Empörung mehr in den Vordergrund drängten, als ihr Mitgefühl; die so entsetzt waren und die so „OMG, wie konnte so etwas passieren“ tweeteten, als wären ihre Augen und Ohren jahrelang verhüllt gewesen. Die, die ihre Augen und Ohren selber jahrelang verschlossen und verdrehten und Tage später nicht verstanden, warum man immer noch gelähmt war. „Du gehst doch gar nicht in Shisha Bars…oder?“ Darum geht es nicht. „Das war ja in Hessen und nicht hier!“. Eben darum geht es nicht.

Ich klage euch an, die denken, dass es KeInE HaUTfArBeN GiBt. Wir siNd DOcH AlLe RasSe HuMan! Ich klage SIE an, Frau Bundeskanzlerin, Sie versprachen, Zitat: „Als Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland verspreche ich Ihnen: Wir tun alles, um die Morde aufzuklären und die Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken und alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen.“ Erwischt: Das haben Sie nicht nach Hanau versprochen, das haben Sie für die Aufklärung der NSU-Morde versprochen. Es passiert nichts, Frau Bundeskanzlerin. Ihre Behörden arbeiten mit Hochdruck, sagen Sie. Ja, mit Hochdruck daran, die Hinterbliebenen zu kriminalisieren und Täter-Opfer-Umkehr zu betreiben. Diese Behörden treffen sich mit Gaulands und Höckes, um ihnen zu erklären, wie sie den Verfassungsschutz umgehen können. Dieses Land verheimlicht seine eigene Geschichte und hört weg, wenn ein Teil von ihm laut wird. Wenn ein wichtiger und relevanter Teil von ihm sagt: Es reicht. Wir wollen dazugehören, aber ihr lasst uns nicht. Wenn ein Teil von ihm ackert, schuftet, höflich bleibt, Aufstiege schafft, gestaltet, verbessert, rettet.

Ich klage alle an, die denken, dass wir uns nur mehr anstrengen müssen, dass wir nicht wirklich wollen, dass es doch Personen gibt, die „unsere“ Werte nicht leben. Unsere Werte? Menschen systematisch zu erniedrigen? Unsere Werte: Menschen in die Armut schuften lassen? Unsere Werte: Einigkeit und Reeeeeecht und Freiheeeeit für das deutsche…das deutsche was eigentlich? Für wen eigentlich? Die Wahrheit ist, für eine Handvoll Leute, die sich selber als Auserwählte erkoren haben, die sagen: Ich bin entitled genug, sowas zu entscheiden und dabei kein scheiß schlechtes Gewissen bekommen. Die Tone-Policing betreiben und „Alter Weißer Mann“ als Diskriminierung deklarieren, und ernsthaft denken, dass sie sich in die Opferrolle drücken können. Die in Talkrunden sitzen und sagen: „Was darf man eigentlich noch sagen?!“ und danach alles sagen, von dem sie sagen, dass sie das nicht mehr sagen dürfen. Ich will nicht mehr höflich sein, euch ausreden lassen, euch nicht mehr in Watte packen, damit ihr nicht sofort in Abwehrhaltung geht.

Ich will nicht mehr empathisch mit dem Täter dieser Taten sein. Ich fordere radikale Ehrlichkeit. Ihr seid Heuchler, Fake-News-Verbeiter, Rassisten und Antisemiten. Ich seid Angsthasen und Worte-im-Mund-Umdreher, ihr seid beleidigte Leberwürste, Rechtsextreme und Faschisten. Die Probleme, die ihr kreiert, sollen wir lösen und dafür geradestehen; wir sollen denken, dass wir sie verursachen- seit über 50 Jahren beschäftigen wir uns mit ihren Folgen so sehr, dass wir gar keine Wahl haben, als damit umgehen zu müssen. Aber liebes deutsches Vaterland, hier von wegen Einigkeit und Recht und Freiheit:  Das sind deine Probleme, das sind deine Themen, für die du eine Lösung braucht. Check‘ mal das Grundgesetz und get your shit together.

Es wird Zeit: „Versprochen ist versprochen und wird auch nicht gebrochen.“

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Es war einmal ein Vater…