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Der Schriftsteller, der zensierte und sich verlor

Eine Filmbesprechung zu „Görülmüştür” / „Passed by censor”

In türkischen Gefängnissen trennen Insassen und Außenwelt nicht nur Stacheldraht und Wachtürme. Auch der Korrespondenz zwischen den Inhaftierten und ihrer Liebsten ist eine Brief-Lese-Kommission zwischengeschaltet, die Verdächtiges streicht. Doch was passiert, wenn in der Zensur-Kommission des Gefängnisses ein poetisch veranlagter Beamter sitzt? Der Film Görülmüştür (2019) von Serhat Karaaslan spielt das durch und zeichnet das Bild einer Gesellschaft, in der Unfreiheit nicht am Gefängnisausgang endet.

„Dilek, mein Herz, ich liebe dich sehr. Sehr geehrte Brief-Lese-Kommission, dieser Brief ist ganz kurz, den können Sie doch weiterleiten“, bittet Deniz Yücel. Der Journalist sitzt zur Zeit dieser Worte in der Strafvollzugsanstalt Silivri. Von seiner Frau trennen ihn nicht nur Betonwände und Stacheldrahtzaun, sondern auch die Brief-Lese-Kommission. Sie entscheidet, welche Briefe an Yücel ausgehändigt werden und welche Briefe von Yücel Chance auf Zustellung erfahren.

Die Mektup Okuma Komisyonu findet nicht nur in Yücels Buch Agentterrorist Erwähnung. Can Dündar, ehemaliger Chefredakteur der Zeitung Cumhuriyet und früherer Inhaftierter in Silivri, widmet ihr und dem sogenannten „Postmann“ ein eigenes Kapitel. In Edirne richtet der kurdische Oppositionspolitiker Selahattin Demirtaş einen Brief aus dem Gefängnis direkt an die Kommission, der später in seiner Kurzgeschichtensammlung veröffentlicht wird. Für die inhaftierten Journalisten und Schriftsteller stellt die Kommission ein wahrlich ungewöhnliches Publikum dar.

Ⓒ Meryem Yavuz

Am Phänomen dieser Brief-Lese-Kommissionen in türkischen Gefängnissen, setzt der Film „Görülmüştür” an. Das Setting könnte ja so einfach sein: Ein Gefängnis, Gefangene, die Brief-Lese-Kommission und die Außenwelt. Gut und Böse, Autorität und Abhängigkeit, Institution und Individuum – die Sympathien der Zuschauer:innen wären schnell definiert. Wäre da nicht der sensible Protagonist Zakir (Berkay Ateş), der diesen Rahmen durchbricht.

Zakir arbeitet im Gefängnis. Bewaffnet mit Görülmüştür-Stempel („Gesehen“) und Kugelschreiber zensiert er Briefe, die an Gefangene gerichtet sind. Verdächtiges und Fragwürdiges wird prophylaktisch unkenntlich gemacht. Eine Aufgabe, die Rigorosität und Kälte erfordert. Beides Eigenschaften, die der poetisch veranlagte Zakir nicht mitbringt. Zuflucht vom tristen Arbeitsalltag und der murrenden und doch liebenswerten Mutter sucht er in einem kreativen Schreibkurs.

Als Zakir ein persönliches Foto aus einem zu prüfenden Brief als Inspiration für seine Geschichte verwendet, fallen Fiktion und Realität unweigerlich immer weiter zusammen. Angetrieben durch seine schriftstellerische Fantasie und seiner Obsession für die Frau eines Inhaftierten deuten für Zakir viele nichtssagende Hinweise auf ein Verbrechen hin. In seiner Besessenheit wird er seinen professionellen Pflichten und sozialen Beziehungen kaum mehr gerecht. Er verliert sich in einem pathologisch anmutenden Retter-Narrativ, in dem Vorstellung und Wirklichkeit nicht mehr trennbar sind.

Der Spielfilm hat großes politisches Potential. Staatliche Willkür, häusliche Gewalt und sexueller Missbrauch sind soziale Missstände und Verbrechen, die der Film anspricht. Schon in den ersten Szenen – der Schulung für künftige Zensor:innen – macht der Ausbilder deutlich, dass es sich beim Zensieren um den Kampf gegen potentielle „Terroristen“ handelt. Ein Begriff, der im türkischen Politikwettbewerb inflationär benutzt wird. Doch der Film erhebt keine tagespolitischen Belehrungen. Er sagt nicht, was richtig und falsch ist. Wie auch, wenn nicht einmal klar ist, was Wahrheit und was Fiktion ist?

Doch es wird deutlich, dass ein Gefängnis nicht nur ein physischer Ort ist. Die türkische Vollzugsanstalt endet nicht an der Sicherheitsschleuse, sondern begleitet viele Menschen in ihrem Alltag als Geisteszustand. Unfreiheit beginnt nicht mit einem Urteil, sondern auch durch politische Repressionen, sozio-ökonomische Gegebenheiten und das Patriarchat. Wohl alle Charaktere des Filmes tragen eine seelische Gefangenschaft mit sich herum.

Ⓒ Meryem Yavuz

Inspiriert wurde der Regisseur Serhat Karaaslan durch eigene Erfahrungen. Als er einen Brief eines befreundeten Gefangenen erhält, wundert er sich erstmals über die ordentlich geschwärzten Wörter. Erst beim nächsten Besuch erfährt er, dass nicht der Freund selbst Geschriebenes streichen wollte. Ihm wird klar, die Brief-Lese-Kommission stempelt nicht nur, sondern streicht auch.

Das Gefühl von Unfreiheit und die Angst vor Zensur kennt Karaaslan als kurdischer Filmemacher in der Türkei. Vielleicht gelingt es ihm deshalb so gut, das Bedrückende filmisch einzufangen. Ausgezeichnet wurde der Film aus dem Jahr 2019 mit zahlreichen Preisen in Karlsbad, Adana, Ankara und Istanbul. Zwei Jahre reiste der Film von Festival zu Festival und machte dabei unter anderem in Nürnberg, Stuttgart, München und Hamburg Station. An manchen Stellen fühlt sich der deutsche Filmfan aufgrund der staatlichen Überwachung als Überthema wohl an Das Leben der Anderen (2006) erinnert. Für das Spielfilmdebüt des Regisseurs ein großer Vergleich, der jedoch erahnen lässt, dass von Karaaslan noch viel zu sehen sein wird.

Görülmüştür (2019) ist aktuell auf den Streaming-Plattformen Sooner (Deutschland), Netflix (Türkei) und UniversCiné (Frankreich) abrufbar.

Text: Lukas G. Schlapp

Bild: Meryem Yavuz

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Rough und gleichzeitig verletzlich