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Du bist, wozu du tanzt. Ein Abriss deutsch-türkischer Musikgeschichte

Martin Greve recherchierte über Jahre hinweg, tanzte auf türkischen Hochzeiten und lernte das Saz-Spielen, um zu verstehen, wie sich die türkische Musik in Deutschland entwickelt hat. Seine Erfahrungen und Analysen hat er in einem Buch verpackt. „Die Musik der imaginären Türkei“ erzählt von den Anfängen, der Enfaltung und den Ausprägungen türkischer Musik in Deutschland.

Dabei macht Martin Greve gleich zu Beginn klar: Die türkische Musik in Deutschland gibt es nicht. Türkische Musik in Deutschland ist vielfältig, komplex, unüberblickbar, ständig im Wandel und von einem Reichtum an Einflüssen geprägt, der selbst Musikstilvermischungen in der Türkei übertrumpft. Mit dem Anspruch, diese Vielfalt einzufangen und in ein Buch zu bringen, hat sich der Musikethnologe viel vorgenommen. Und doch schafft er es, mit klarer Struktur und angenehmer Leichtigkeit, das Thema zu erläutern. Martin Greve schreibt dabei aus einer spannenden Position heraus: Aus der Beobachterhaltung, die er vorerst bei seinen Recherchen einnahm, wurde schnell die aktive Teilnahme, bis er selbst in türkische Lebensmusikwelten integriert wurde. Und das Türkische hat ihn wohl so sehr gepackt, dass er seit 2011 wissenschaftlicher Referent am Orient-Institut in Istanbul ist. Selbst im Online-Spaßlexikon Ekşi Sözlük, hat er einen Eintrag. Spätestens damit kann seine „Türkisierung”, wie er sie selbst nennt, wohl als weit fortgeschritten bezeichnet werden. Eine Umkehrung des Weges quasi, den er in seinem Buch nachzeichnet: das Ankommen von Menschen aus der Türkei in Deutschland. Daran erzählt und analysiert er  die Funktion und Entwicklung türkischer Musik.

Abriss einer (Musik-) Migrationsgeschichte

Wie der Titel des Buches schon andeutet, ist der Referenzpunkt, der nach Martin Greve die Ausprägung türkischer Musik in Deutschland bestimmt, die – recht individuelle oder auch  gruppenspezifische – Vorstellung von der Türkei. Und diese ist abhängig von den Lebensumständen und politischen sowie gesellschaftlichen Entwicklungen, in denen sich Menschen mit Türkeibezug in Deutschland befinden. Nur logisch also, dass Martin Greve die Entwicklung der türkischen Musik in Deutschland entlang des türkischen Migrationsweges erläutert. Also geht es so richtig in den 60er Jahren mit Einzug der GastarbeiterInnen in Deutschland los.

Vor den 60ern spielten türkische MusikerInnen in Deutschland nur westliche Kunstmusik. Die GastarbeiterInnen bringen andere Musik, ihre Musik mit. Die, die sie aus ihren Dörfern im Kopf haben. Und die Musik hat hier viel mehr eine gesellschaftliche, als kunstgenüssliche Funktion: Das Zusammenbringen von Menschen ähnlicher kultureller Prägungen, das Stillen von Heimweh. Die ersten Lieder, die sich in den 60ern vor Ort entwickeln, sind „Gurbetçi-Lieder” – Lieder der Fremden. Themen sind die Anwerbung, das Heimweh, die Beschreibung der „Deutschen” – Alles, was eine Rolle spielt, was das blutende Herz der sich fremd Fühlenden berührt.

Ab 1973 verändert sich die Lage. Hier beschreibt Greve einen Umbruch. Eine neue Stilrichtung erhält Einzug. Strukturänderungen sind der Grund. Man holt die Familie aus der Türkei nach. Ein Umzug von Wohnheimen in Wohnungen findet statt. Man wird vom Gastarbeiter zum Immigranten. Türkische Vereine und Geschäfte schießen aus dem Boden, das Alltagsgefühl sowie das Freizeitvergnügen werden relevant und damit auch die Musik als Form der Unterhaltung. Das Material kommt dabei wieder vornehmlich aus der Türkei. Arabesk, eine „Mischung aus anatolischer Volksmusik, westlichem und urbanem türkischen Schlager, sowie libanesischer Unterhaltungsmusik” findet ihren Einzug in Deutschland. Thematisch geht es um Schmerz, Trennung, die Kälte der Großstädte. Das Thema Deutschland verliert an Relevanz. Lieber wird der Blick in die alte Heimat gerichtet. Die Türkei als idealisierter Zufluchtsort vor der deutschen, kalten Realität. Und die Musik als Inszenierung dieser Heimat.

Musikrestaurants und türkische Hochzeiten verlangen nun auch vermehrt nach Live-Musik. Da es wenig ausgebildete KünstlerInnen gibt, werden diese aus der Türkei eingeflogen. Doch langsam findet nun auch in Deutschland die Musikausbildung statt. Meist übernehmen dies Vereine mit Saz-Kursen oder Volkstanzkursen.

Gemeinschaftliche Identitätsbildung durch Musik

Die Vereine etablieren sich schnell als Hüter der Traditionen und damit auch Bestimmer des Bildes der Türkei, die man bei Veranstaltungen dann präsentiert. Dabei spielt die Musik eine essentielle Rolle. Welche Lieder gespielt werden, welche Instrumente wie genutzt werden, in welcher Art das Tanzbein geschwungen wird, spiegelt wieder, wie sich die Community um den Verein herum versteht, welches Bild der Türkei sie sich zu eigen macht. Und so bilden sich in Deutschland unterschiedliche musikalische Stilrichtungen aus. Abhängig davon, wie die unterschiedlichen Vereine kulturell, sozial und politisch geprägt sind: Ob türkisch, kurdisch, (sunnitisch-) islamisch, alevitisch. Sie lehren die Musikformen und geben Anlass zur Ausübung von Musik. Damit geben sie über Generationen hinweg, ihren Musikstil türkischer Musik weiter.

In den 80ern, so schreibt Martin Greve, gibt es erneut einen Input für türkische Musik, und zwar direkt aus der Türkei. Durch den Militärcoup kommen Asylsuchende nach Deutschland. Viele von ihnen sind Intellektuelle und KünstlerInnen. Sie bringen politische Musik mit. Außerdem befinden sich unter ihnen auch viele MusikerInnen, die konkretes Handwerk anbieten. Durch die Geschichten der Neuzugekommenen und durch verbesserte Telekommunikation schwindet das verklärte Türkeibild ein wenig und wird ersetzt durch tagesaktuelle Fakten und Bilder der Türkei.

Der Empfang türkischen Fernsehens und die Verbreitung türkischer Medien in Deutschland prägt die türkische Musiklandschaft noch stärker in den 90ern. Die Popmüzik aus der Türkei, die täglich stundenlang verpackt in Videoclips über die Flimmerkisten läuft, wird zum Trend. Gleichzeitig etablieren sich mehr und mehr Strukturen für Jugendliche, für die dritte Generation türkischer Gastarbeiter in Deutschland. In Jugendcafés und Diskotheken tratscht und tanzt man zusammen und definiert sich gemeinsam inmitten der unterschiedlichen kulturellen Strömungen. Der deutsch-türkische Hiphop entwickelt sich. Er ist Sprachrohr und steht für ein neues Selbst-Bewusst-Sein. Der Blick bleibt nicht mehr nur noch an der imaginären Türkei haften, sondern wendet sich auch ins eigene Land.

Türkische Musik als Kunst

Was jedoch die unterschiedlichen musikalischen Richtungen im deutsch-türkischen Kontext weitestgehend bestimmt, ist ihre Funktion als Ausdruck und Politikum der kulturellen, sozialen, politischen Identität im Bezug auf die Türkei. Schwierig ist es, Musik zu finden, die als Kunst selbst funktioniert, schreibt Martin Greve. Es mangelt an Institutionen, Ensembles und Ausbildungsmöglichkeiten fernab von Vereinen, also entkoppelt von bestimmten poltischen und gesellschaftlichen Interpretationen der Türkei und ihrer Musik.

Es mangelt generell an einer Wahrnehmung türkischer Musik als Kunst. Auch auf deutscher Seite. Hier wird diese meist als Folklore angesehen, weniger als künstlerische Form. Zurückzuführen ist dies auch darauf, dass Diskurse in Deutschland über Türkisches von sozialen und problembehaften Themen geprägt sind. „Im Kulturleben Deutschlands, in den Feuilletons deutscher Zeitungen ebenso wie in der öffentlichen Kulturförderung spielt die türkische Kultur praktisch keine Rolle.” Und so wird die Notwendigkeit für Ausbildungsstätten für türkische Musik auch nicht begriffen. Dabei könnten ebensolche MusikerInnen langfristige Perspektiven eröffnen, und interkulturelle Musikströmungen im deutschen Raum fördern. Und vielleicht auch den Diskurs im türkischen Kontext verändern.

Martin Greve denkt jedoch, dass das Interesse auf beiden Seiten da ist. Allein ein wenig Mut fehlt wohl, um die Brücke zum „Anderen” zu schlagen und neuen musikalischen Möglichkeiten die Weichen zu stellen. Eine Portion Mut im Bezug auf die Begegnung mit dem Anderen, das kann wohl nicht nur in der Musikbranche gut tun.

Seit der Veröffentlichung des Buches 2003, so fügt der Musikethnologe in einem späteren Austausch hinzu, habe sich viel getan. „Es gibt inzwischen jede Menge neuer Projekte und Entwicklungen, gerade zur Integration türkischer Musik an deutschen Institutionen.” Der Mut wächst also.

Text: Marie Hartlieb
Redaktion: Tuğba Yalçınkaya

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