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Kangal – Eine Frage der Perspektive

Rezension des Debütromans von Anna Yeliz Schentke

Kangal, der Debütroman von Anna Yeliz Schentke ist ein schnelles, mitreißendes Buch und hat es mehr als verdient, auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2022 zu stehen. Auf knappen 200 Seiten nimmt es die Leser:innen mit nach Istanbul, Frankfurt, in Kindheitserinnerungen, Liebe, Freundschaft und Rassismus.

Kangal, der Debütroman von Anna Yeliz Schentke ist ein schnelles Buch, es reißt einen auf 200 Seite in die Gedanken- und Gefühlswelt der drei Hauptfiguren hinein. Mit nach Istanbul und Frankfurt, in vergangene Urlaube, in Kindheitserinnerungen, Küchen, an den Strand, in familiäre Abgründe, in Freundschaft, Liebe aber auch in Hass, Rassismus und eine Atmosphäre der Angst. In Deutschland und in der Türkei.

Dabei gibt das Titelbild des Erstlings zuerst einen anderen Eindruck: der weiße Plastikstuhl auf einem Balkon ist so typisch durchschnittlich. Friedlich auf einem Balkon angelehnt, von Sonnenlicht durchflutet, welches sich zu einem Regenbogen spiegelt. Es könnte ein Urlaubsbild sein, wären da nicht schwarzer Rand und Schrift und ein sehr langer Schatten.

Der erste Gesamteindruck auf dem Buchdeckel spiegelt das Buch, in dem nichts ist, wie es auf den ersten Blick zu sein scheint. Die Ebenen und Perspektiven, in die Anna uns mitnimmt, sind vielschichtig, teilweise verwirrend und lassen die Leser:in oft unschlüssig zurück. Gewissheiten finden sich nicht in Kangal und dies ist seine absolute Stärke. 

Während die Geschichte in einzelnen kurzen Kapiteln aus der Sicht von Dilek, ihrer Cousine Ayla und Dileks Freund Tekin geschildert wird, werden die komplexen Beziehungsgeflechte dahinter Stück für Stück sichtbar. Drei Perspektiven, drei Meinungen. Wahr oder falsch ist wie vieles eine Frage der Perspektive. Den Einstieg macht die Nacht vom 15. auf den 16. Juli in der Türkei. Ein Ausschnitt, an den viele von uns sich nur zu gut erinnern: Fernseher, Ungewissheit, Cay trinken, Abwarten und live dabei sein. Auf die eine oder andere Weise. „Du konntest richtig sehen, wie die Panzer Angst hatten, jemanden zu verletzen. […] oder sie hatten die Vermutung, dass das eh alles nicht klappt […] Und das alles ist auf dieser Brücke passiert, diese eine Brücke!“ Die Nacht ändert das Leben vieler Menschen. Istanbul dient hier als Sinnbild und Synonym für diese geteilten Lebensräume, doch Tekin räumt schnell mit diesem Istanbul Klischee auf:  „Die Menschen sind geteilt, ihre Familie, ihre Freunde. Aber Schuld daran sind nicht die Kontinente.“ Brücken erhalten innerhalb von kurzer Zeit einen neuen Namen und die türkische Fahne ist für viele nicht mehr nur das Symbol eines Staates. Sie wird zu einem Bekenntnis für Dilek und ihre Freunde, untrennbar verknüpft „mit den Toten dieser Nacht“.

In Kangal fliegt Dilek, die Hauptfigur, zu ihrer Cousine nach Frankfurt, sie hat Angst. Das beklemmende Gefühl bei der Passkontrolle: „Wenn sie ihn dir nehmen, bist du niemand mehr.“ Und niemand ist ganz schön wenig. Es gelingt der Autorin Dileks Gefühlswelt mit meiner zu verweben und die Angst davor, staatlichen Behörden schutzlos ausgesetzt zu sein, löst auch in mir Beklemmung auf meinem sicheren Neuköllner Balkon aus. Dilek hat in vielerlei Hinsicht wenig: ihre Mutter verstarb, mit der Familie in Deutschland überwarf sich ihre Mutter bereits vor ihrem Tod und ihr Vater ist abgehauen. Kein einfaches Leben, aber sie hat Tekin, ihre Freundinnen Soraya und Hilal. Und Kangal- ihr Pseudonym im Internet. „Wir mussten andere werden, um sagen zu können, was wir dachten. Lieber eine andere sein, als keine Stimme zu haben.“ Und so schrieb sie an, gegen ihre Wut, als es zu gefährlich wurde, zu demonstrieren. Als immer mehr ihrer Orte buchstäblich verschwinden oder nur noch im Geheimen, wird das Internet zum letzten freien Raum – ein Safe Space für sie und ihre Freunde. „Wir heißen anders, aber wir schreiben, was wir wollen.“ So wurde Dilek zu Kangal. Kangals sind eine türkische Hunderasse, die ursprünglich als Herdenschutzhunde, aber in den 1970er Jahren zum Teil auch für militärische Zwecke genutzt wurden und im Dorf ihrer Großmutter sogar die Wölfe vertrieben. Das perfekte Pseudonym für Dilek – es symbolisiert Stärke. Andere Dinge können sie nicht mal mehr beim Namen nennen: „Wir haben kein einziges Mal seinen Namen gesagt. Der, der keinen Namen braucht -Ismi lazım değil.“

In Kangal vermischt sich Türkisch mit Deutsch, Inhalt mit Sprache, verwoben und nicht immer offensichtlich. Kangal hat diese Dimension, wenn beispielsweise Osman Özgür (özgürlük = Freiheit) mit Dilek Wohnungsangebote durchgeht. Wenn er sagt, dass man „zusammenhalten müsse“ und Dilek denkt: „Ich halte mich zusammen.“ Abla, pasaport numarası, Almans, Canim, Baba, maşallah, vatan, Anne oder auch ganze türkischen Sätze begleiten die Leser:in durch die Seiten. Es scheint kein Zufall, dass ein Freund von Dilek und Tekin „nicht erst seit 2016 weiß, was es heißt verfolgt zu sein.“ Sein Name Baran ist kurdischen Ursprungs. Eine Geschichte – tausend Perspektiven. 

Die Cousinen Ayla und Dilek verbindet nichts mehr als ferne Kindheitserinnerungen, der Streit ihrer Mütter trennte auch sie. Gleichzeitig haben sie sich ein tiefes Gefühl der Vertrautheit bewahrt durch diese Erinnerungen. Ayla vermisst ihre abla, weiß nichts vom Tod der Tante und ist geprägt von ihren konservativen Eltern, die klare Vorstellungen von der Zukunft ihrer Tochter haben. Als Dilek in Frankfurt ankommt, lernt sie eine Fremde neu kennen. Ayla, die in Deutschland aufgewachsen ist, trägt die türkische Flagge auf Profilbildern und Feuerzeug, war verlobt und trennte sich nach dem ersten Schlag. Dabei schien er die perfekte Partie: „Ein Türke mit Ausbildung, seine Eltern waren traditionell, hatten ein Geschäft im Viertel. Mein Vater kannte seinen Vater.“ Und dann kommt Dilek, hat einen Freund ohne Verlobung und zeigt ihr teilweise gnadenlos ein anderes Türkeibild. „Es ist anders schwierig in der Türkei, nicht so wie hier“, bekommt Ayla zu hören, wenn sie auf die Missstände in Deutschland hinweist.  Auch sie muss Teile ihres Lebens verbergen, nicht vor der Politik, aber vor ihrem persönlichen Umfeld. Sie erzählt nichts von ihrem Studium, sie weiß, dass die Eltern sie nicht unterstützen würden, ihre Zweifel an der türkischen Regierung werden weggewischt „bist du Politiker oder was?“, fragt sie ihr Vater. „Das hat nichts mit dir zu tun, das hat nichts mit uns zu tun“, sagt er, „das sind unzufriedene Menschen, das ist das Problem. Und sie haben die Nähe zu Allah vergessen, die alle.“ Sie nennt die Türkei ihr Zuhause, jedoch ist es ein Zuhause in dem sie nie gelebt hat. Dilek bleibt misstrauisch. Und Ayla fragt sich, wie viel sie wirklich versteht: „Ich google, ich lese, ich versuche zu überprüfen. Aber ich kann mir nicht sicher sein, was das alles bedeutet. Wer wird eingesperrt und warum? Warum werden manche eingesperrt und andere nicht?“ Gleichzeitig fragt sich Dilek, ob sie paranoid geworden ist und Ayla schlicht recht hat.

Und dann taucht man gleichzeitig immer wieder in Tekins Gedankenwelt ein. Tekin, der immer noch Familie in der Türkei hat und sich nicht vorstellen kann zu gehen. „Er werde nicht gehen, sagt er, er sei hier zu Hause und er wolle dafür kämpfen, dass es wieder so wird, wie es einmal war.“ Auch das ist die Geschichte der Erinnerung. Es gab mal eine andere Türkei für Dilek und Tekin, die heute kaum noch sichtbar ist. So wie Deutschland immer mehr als Merkel war, ist die Türkei mehr als Erdoğan. Tekin erinnert die Leser:innen daran und ist entsetzt von Dileks Verschwinden, welches er für eine Kurzschlussreaktion hält. Er streift durch Istanbul und versucht er herauszufinden, ob etwas gegen Dilek vorliegt. Der Freundeskreis ist durchzogen von Verhaftungen oder Gefängnis. Unrealistisch ist es nicht, aber wer weiß das schon. Eine Garantie gibt es nicht. „Bis zum heutigen Tag gibt es keine Akte. Dileks pasaport numarasi ist sauber, nur Material“, sagt Sinem, die beste Freundin von Dileks Mutter, Anwältin und Feministin. Er geht zu Baran, der dauerhaft gehetzt wirkt; zu Hilal, die eine Augenklappe trägt seit sie verprügelt wurde. Auch von ihnen keine Antworten, keine Gewissheit. Gleichzeitig ist er überzeugt: „Was auf diesem Boden passiert, lässt sich auf Dauer nicht geheim halten. Und wenn es sich jetzt nicht ändert, dann in hundert Jahren, und wenn in hundert nicht, dann in tausend.“ Jedoch ist auch er kein idealistischer Träumer und beschreibt die Atmosphäre der Angst und fragt sich, ob es wirklich besser werden kann, denn „es ist längst nicht mehr die Regierung, die alles zerstört hat. Hier wurden die Menschen lange dazu erzogen, ihre Nachbarn zu kontrollieren.“ Auch nach Deutschland zieht sich die Atmosphäre, Dilek vertraut ihrer Nachbarin nicht, weicht aus, es kriecht an ihr hoch. Das Leben klebt, wenn Dilek sich ständig fragt, ob sie zu viel oder das richtige gesagt hat, ob es sicher ist.

Neben der Atmosphäre ist es Rassismus, der Dilek von der einen in die andere Welt begleitet und der alle Leben durchzieht. Sie bringt es auf den Punkt, als sie feststellt, dass sie „auf der Straße nicht erkennen kann, wer Asyl beantragt hat, wer hier Urlaub macht, wer hier geboren ist.“ Hanau ist auch in der Türkei ein Begriff, genauso wie Halle, Rostock Lichtenhagen, Mölln, Hoyerswerda oder Solingen. Zu viele Orte, um alle aufzuzählen. Eine unterschwellige Präsenz, wenn Ayla feststellt, dass „[m]ein Name ist wie ein Hund, mit ihm findest du hier keine Wohnung.“ Von einem Hund kann man sich trennen. Ein Name, die Farbe der Haut, den falschen Pass wird man nicht los, weder in der Türkei noch in Deutschland. Die Almans denken, dass Türken nur „muslimische, gewalttätige Dönerverkäufer“ sind, stellt Aylas Freundin Melek nüchtern fest.

Auf 205 Seiten wird klar, dass alle Figuren eine eigene Wahrheit haben. Kangal macht auch deutlich: Das Private ist politisch und einen Safe Space, einen Rückzugsort gibt es für viele Menschen schon lange nicht mehr. „Aber die Politik ist zu uns gekommen”, entgegnet Ayla an einer Stelle ihrer Mutter, die denkt, dass Raushalten genügt.

Während ich auf dem Neuköllner Balkon lese und mich immer weiter in Kangal verliere, werde ich von Ezhel aus dem Auto Lautsprecher an der Ampel unterbrochen:

„Kötü insanlar, kötü

Bunu aklım almaz hiç

Otu, boku yargılarlar, ey

Bizi kötü algılarlar

Hatta ne yaparsan yap memnun edemezsin kimseyi aynı anda

Bi’ sürü küfür de saydım ama hiçbiri bi’ türlü etmez fayda

Yani ne desem boş“

Die Türkei im Kiez – welche? Eine Frage der Perspektive. Anna Yeliz Schentke lässt den Leser:innen in Kangal die Wahl. Eine Wahrheit zu konstruieren ist – zum Glück – nicht ihr Ding.


Text: Rebecca Meier

Illustration: Manijé Angaji


Anna Yeliz Schentke – Kangal (208 Seiten) ist erschienen im S. Fischer Verlag und kostet 21 Euro.

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