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In der Sprache des Anderen die eigene Kultur erklären

“Schon wieder ist der ganze Plan durcheinander”, seufzt Franziska Schleyer. “Typisch.“ Wir haben uns im Türk-Alman Kitabevi getroffen. Einer der Orte, an dem sich in Istanbul die deutschsprachige Community tummelt. Bücher von Goethe und Schiller liegen herum, daneben eine Deutschlern- Schablone von PONS. Der deutsch-türkische Buchladen an der Istiklal hat ausgebaut, in einem großräumigen zweiten Stock kann man am Kamin sitzen, türkischen Tee trinken und die neusten Bücher über die Türkei auf deutsch lesen. Oder deutsch-türkischen Geschichten lauschen und sich über diese beiden Kulturen austauschen. So, wie Franziska Schleyer das jetzt mit ihren Studenten tut.

Aus Edirne sind sie für einen Tag nach Istanbul gekommen, haben das deutsche Konsulat besucht, machen eine Pause im Türk-Alman Kitabevi und ziehen dann weiter auf deutschsprachigen Spuren in Istanbul. Diese Veranstaltung hat der Verein “Trakya Alman Kültür Derneği” organisiert, der 2011 von 7 Personen, allen voran Franziska Schleyer und Halil Türkan, dem jetzigen Präsidenten und der Vizepräsidentin in Edirne gegründet wurde. Dort werden Sprach- und Kommunikationskurse angeboten, Ostern und Weihnachten gefeiert, es werden unterschiedliche Kultur- und Bildungsveranstaltungen organisiert und Austauschprogramme nach Deutschland angeboten. Und dann geht es mit dem Verein manchmal auch nach Istanbul, wo der Austausch dank der großen deutschsprachigen Community noch intensiver schon vor Ort beginnen kann. Doch der Tagesplan ist etwas umgeworfen worden. Franziska Schleyer seufzt, Halil, der ihr gegenüber sitzt, lächelt gelassen. So ist das halt in der Türkei, alles etwas spontaner, unberechenbarer.

Die Herausforderungen und das Potential eines deutsch-türkischen Vereins

Als die beiden 2011 den Verein gründeten, erzählt Halil, ging es ihnen darum, den deutsch-türkischen Austausch und die Kommunikation zwischen den Ländern zu fördern. Doch anfangen mussten sie erst einmal auch bei sich selbst. “Wir mussten bei der Art, wie wir den Verein führen zuerst die Mitte zwischen der deutschen und türkischen Arbeitsweise finden.” Das bedeutete also ein bisschen mehr Beziehung statt Bürokratie und auch ein bisschen mehr Planung als Mal-Sehen-Was-Kommt. Beide lernten voneinander. Halil sagt, er habe von Franziskas Zielstrebigkeit gelernt, Franziska meint, sie hat sich angeeignet, auch mal “boş ver” (was solls) zu sagen, und sich in Geduld geübt.

In ihrem Verein, so erklärt Halil, geht es vor allem um die Jugend und deren Potential, kulturelle Barrieren zu überwinden. “Die EU hat die physischen Grenzen minimiert, doch die kulturellen Grenzen bestehen weiter”, erzählt er. “Wenn man aber die Sprache lernt, kann man auch diese Grenzen überwinden.” Einige der Teilnehmer der Istanbulfahrt haben schon Ausflüge nach Deutschland gemacht. Sie erzählen von bestimmten Bildern im Kopf der Deutschen, die sie schon aufbrechen konnten. “Ich kam zusammen mit einer Freundin nach Deutschland, die sich die Haare blau gefärbt hatte. Wir wurden gefragt, wie es sein kann, dass eine Muslimin sich die Haare blau färbt”, erzählt Rivdan. In Deutschland wurde ihm bewusst, wie wenig Deutsche und Türken wirklich übereinander wussten, und wie wichtig es war, zu reisen, und mit anderen Menschen in tatsächlichen Kontakt zu kommen. Nun studiert er Dolmetschen, genau wie Faruk, der auch an der Istanbulfahrt teilnimmt. “Ich hoffe, dass wir durch die Sprache als Brücke zwischen den Kulturen fungieren können. So können wir Wirklichkeiten übereinander transportieren und Kommunikation schaffen. Und nur so gelingt es uns auch, einander wirklich näher zu kommen”, erzählt dieser.

Leben mit der deutschen und türkischen Kultur

Faruk ist sich sicher, sein Leben soll sich in Zukunft in beiden Ländern abspielen. Ohne die Traditionen, das Lebensgefühl und die Strukturen beider Länder geht es für ihn nicht mehr. Bis er elf war, war er in Deutschland, nun ist er seit elf Jahren in der Türkei. Vermissen tut er beides, je nachdem, wo er sich gerade nicht befindet. Eine anderes Mitglied des Trakya Alman Kultür Derneği, Merve, will nach Deutschland ziehen. Dort, so glaubt sie, kann sie freier und selbstbestimmter leben.

Auch Efe, ein Medizinstudent erzählt, dass er bessere Ausbildungschancen in Deutschland sieht und strebt deshalb an, nach Deutschland zu gehen.
Die Begeisterung für Deutschland haben die Mitglieder zum einen von dem, was Franziska Schleyer ihnen von ihrer Heimat vermittelt. Zum anderen konnten sich viele der Vereinsmitglieder schon persönlich ein Bild von der deutschen und türkischen Kultur machen. “Beide haben ihr Gutes und Schlechtes”, erzählt Canan Gül, Vorstandsmitglied des Trakya Alman Kültür Derneği. “Für uns ist es unverständlich, wie die Straßen nach 20.00 Uhr in Deutschland wie leergefegt sein können. Diese Lebendigkeit, die es in der Türkei gibt, die vermisst man dort schnell. Aber über ein bisschen weniger Chaos in der Türkei wäre ich auch nicht traurig.” Dass sie beide Kulturen kennen lernen dürfen, ist für jedes Mitglied dieses Vereins eine großartige Bereicherung. Durch den Spracherwerb und den Erwerb des kulturellen Verständnisses für die Türkei und Deutschland ist es ihnen möglich, so glauben sie, zum einen ein wahrhaftigeres Bild dieser beiden Kulturen zu bekommen, als es vielleicht durchs Hörensagen und die Medien verbreitet wird. Und zum anderen macht es sie in ihrer eigenen Lebenswahl freier, da sie eine größere Perspektivenvielfalt erworben haben.

Mit der Gründung des Vereins haben sich Halil Türkan und Franziska Schleyer genau das erhofft: Den Blick junger Leute auf ihre eigene Kultur und die der anderen zu schärfen und die Möglichkeit, zwischen beiden vermitteln und mit beiden leben zu können. Ihre Wünsche für eine Zukunft des Miteinanders werden dadurch, dass sie der nächsten Generation das Handwerkszeug auf den Weg geben, ein bisschen mehr Wirklichkeit.

Text: Marie Hartlieb
Bilder: Charlotte Schmitz

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