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Vom Leben der Gastarbeiter*innen

Ein Dokumentarfilm über Menschlichkeit und Grausamkeit

Nebil Özgentürk, Dokumentarfilmer, Schriftsteller und Journalist, erzählt in seinem Dokumentarfilm “Almanya’ya Göçün Hatıra Defteri” (Das Tagebuch der Auswanderer nach Deutschland) die Geschichte der türkischen Gastarbeiter*innen auf ihrem Weg nach Deutschland. Im Film, der im Januar 2018 Premiere feiern wird, werden die Schwierigkeiten und Erlebnisse der türkischen Gastarbeiter*innen und ihrer Familien aus einem persönlichen Blickwinkel dargestellt. Wir trafen uns mit Nebil Özgentürk, um über den Schaffensprozess, die Herausforderungen und berührenden Momente bei der Produktion des Films zu sprechen.

MAVIBLAU: Wie entstand die Idee, einen Dokumentarfilm über türkische Migrant*innen zu produzieren?

Nebil Özgentürk: Diese Idee entstand während eines Gesprächs nach einer Veranstaltung des TürkÜniD e.V. (Türkischer Studenten- und Akademikerverein in Köln), den ich durch meinen guten Freund Günay Çapan kennengelernt hatte. Dabei kam die Frage auf: “Warum sollte denn nicht eine Dokumentation über türkische Migranten produziert werden, in der die Erlebnisse und Erinnerungen dieser Menschen auf ihrem Weg nach Deutschland und die alltäglichen Schwierigkeiten als Einwanderer in Deutschland dargestellt werden?” Die Jugendlichen hatten Herrn Çapan vor der Veranstaltung vorgeschlagen, dass ich eine solche Dokumentation machen sollte, was mich sehr gefreut hat. 
Die Jugendlichen wollten wissen, wie und von woher ihre Vorfahren nach Deutschland gekommen waren und was sie auf diesem Weg erlebt hatten. Mit der Unterstützung von Herrn Çapan haben wir sodann mit unserem Projekt begonnen. Innerhalb von 14 Monaten waren wir jeden Monat ein oder zwei mal in Deutschland, waren in zwölf Städten unterwegs und hörten uns viele Geschichten und Erinnerungen an. Es waren tragische und dramatische Erlebnisse dabei, aber auch Erfolgsgeschichten. Wir haben in kleinen Schritten unsere Aufnahmen gemacht und seit zwei Monaten sind wir nun in der Postproduktionsphase.

Es gibt viele Dokumentarfilme über die Gastarbeiterzeit, was ist anders an Ihrem Film?

Natürlich gibt es einige deutsche Filme über dieses Thema, die in der Türkei ausgestrahlt wurden. Dabei wird dieses Thema mit einem gewissen Schwerpunkt behandelt, nie aber “von Anfang an”. Unser Konzept lautet daher “1961-2017”. Von gestern bis heute also. Das wird zum ersten Mal gemacht. Außerdem finde ich, dass es auch wichtig ist, einen Blick aus der Türkei auf dieses Thema zu werfen. Ich lebe in der Türkei. Vielleicht sehe ich Dinge, die Sie anders wahrnehmen. Oder vielleicht empfinde ich etwas als unnormal, was Sie als normal empfinden oder umgekehrt. Daher finde ich, dass es etwas anderes ist, wenn es jemand aus der Türkei macht.

Welche Geschichte hat Sie am meisten berührt?

Die Geschichte, die mich am meisten berührt hat, passierte vor 30 Jahren, genauer gesagt im Jahr 1976. Wir waren mit Özcan Mutlu (Abgeordneter der Grünen, Anm. d. Red.) in Berlin unterwegs und standen plötzlich vor einem Denkmal. Auf Deutsch, Türkisch und Englisch stand: “Dieses Denkmal wurde für ein Kind errichtet, das aus der Türkei nach Deutschland gekommen und in diesem Fluss ertrunken ist”. 
Dann haben wir uns die Geschichte dazu angehört: Es war zu der Zeit des Kalten Krieges. Auf der einen Seite die Sowjetunion und auf der anderen Seite die USA. Deutschland war gespalten und die Menschen waren traumatisiert. Ein Krieg muss nicht unbedingt mit Waffen geführt werden, die Auswirkungen machen sich in jeglicher Form bemerkbar. Und genau das fingen wir mit dieser Geschichte auf.  Auf der einen Seite war West-Berlin und auf der anderen Seite Ost-Berlin. Genau in der Mitte der Stadt verlief ein Fluss. Die Sicherheit dieses Flusses gewährten die Soldaten aus Ost-Berlin, dieser Fluss “gehörte” also dementsprechend zu Ost-Berlin. Ein türkisches Kind aus West-Berlin stürzte beim Spielen in diesen Fluss und niemand konnte es retten, weil der Fluss Ost-Berlin gehörte. Deshalb ertrank das Kind in diesem Fluss. So “kalt” ist dieser Krieg, einfach nur schrecklich. Diese Geschichte ist mir sehr nahe gegangen.

Hatten Sie Schwierigkeiten, als Sie die Menschen nach ihren persönlichen Geschichten gefragt haben?

Nein, ich hatte überhaupt keine Schwierigkeiten. Wir haben viele Freunde und Freundinnen in Deutschland, die uns sehr unterstützt haben. Zudem haben wir uns die Geschichten, die uns interessiert haben, schon vorher herausgesucht und vorher schon recherchiert. Zum Beispiel die Geschichte mit dem Denkmal. Oder auch einen Mann in Frankfurt, der zu der Zeit des Putsches am 12. September 1980 in der Türkei eine Sendung moderiert hat. Auch den haben wir mithilfe unseres sehr guten Rechercheteams gefunden. Er erzählte uns, wie er unter der Pressezensur gelitten hatte. Jeder Mensch hat eine persönliche Geschichte zu erzählen und wir waren auf der Suche nach den Einzelheiten einer jeden Geschichte. Ein anderer Protagonist im Film erzählte uns von seinem Kind, das er nach der Geburt nicht mehr sehen konnte, weil seine Frau ihm das Kind nicht zeigen wollte. Der andere sprach von rassistischen Angriffen, die er erfuhr und jemand anderes erzählte wiederum, wie ihm Deutsche geholfen haben. In diesem Projekt haben wir alles. Sowohl die Menschlichkeit, als auch die Grausamkeit. Sowohl Tränen als auch Freude. Wir haben 55-56 Menschen interviewt und ich kann sagen, dass wir keine Schwierigkeiten hatten, uns den Menschen zu nähern.

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Was ist Ihnen besonders aufgefallen, als Sie sich mit den in Deutschland lebenden und aus der Türkei kommenden Menschen unterhalten  haben? Besteht immer noch der Gedanke, irgendwann zurückzukehren?

Hätte ich dieses Projekt in den 1980er Jahren in Angriff genommen, wäre es ganz anders gewesen. Die Menschen hätten damals höchstwahrscheinlich gesagt: “Ach, ich habe mein Herkunftsland so vermisst. Ich arbeite noch einen Monat und kehre dann zurück.” Diese Menschen sind aber nun älter geworden, haben vielleicht sogar Enkelkinder. Sie werden nicht mehr zurückkehren, ihre Familien sind in Deutschland. Außerdem sind die Deutschtürken früher nur mit ihren Autos in die Türkei gefahren. Heute aber landet jede Stunde ein Flieger in Istanbul, Sivas, Tunceli, Adana etc. Die Technologie ist heute – verglichen mit der früheren Zeit – um einige Schritte weiter, sodass die Menschen leichter Kontakt zu ihren Familien und Verwandten aus der Türkei halten können. In den letzten 30 Jahren hat sich viel verändert. Ein 82-jähriger Mann aus Sivas sagte zum Beispiel zu mir: “Mein Grab ist hier, in Köln. Es ist egal, ob ich in der Türkei lebe oder nicht. Ich bin in Deutschland zu Hause.”

Was möchten Sie mit diesem Dokumentarfilm bewirken?

Ich möchte damit nur einen Spiegel vorhalten. Ich bin kein Historiker, daher kann ich die vergangenen 56 Jahre nicht in historischen Einzelheiten wiedergeben. Ich möchte die Geschichte der Auswanderer in einem Film präsentieren. Dies ist der Blickwinkel von mir und meinem Team auf die vergangenen 56 Jahre. Ich denke, dass wir damit einen Beitrag zu diesem Thema leisten können.Und ich hoffe, dass, wenn sich die Menschen diesen Dokumentarfilm anschauen und dabei sehen, mit welchen schwierigen Situationen die eingewanderten Menschen zu kämpfen hatten oder wie zum Beispiel ein türkischer Arbeiter von Neonazis angegriffen wurde, dabei denken: “Es sollte keinen Platz für Rassismus auf dieser Erde geben.” Dieser Dokumentarfilm soll für und über die Menschen sein, die ihr Bestes geben, Teil des Landes zu werden, in das sie sich aufmachten und das sie als ihr Zuhause betrachten.

Vielen Dank für dieses Gespräch, Nebil Özgentürk.

Text: Zeynep Ünal
Bilder: Navid Linnemann