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Von filmischen Herausforderungen, mutigen Frauen und der Suche nach Kindheit

Auf einen Çay mit Aslı Özarslan

Wie eine Schlinge, die sich um den Hals legt und immer weiter zuschnürt – so beschreibt Aslı Özarslan ihren neuen Dokumentarfilm „Dil Leyla“. Wir haben uns mit  der 31-jährigen Filmemacherin getroffen und mit ihr über „Dil Leyla“ und die Protagonistin gesprochen.

Ihre Protagonistin, das ist Leyla İmret, die jüngste Bürgermeisterin der Türkei. Als Fünfjährige aus dem Südosten der Türkei nach Deutschland geflohen, kehrte die 26-jährige Kurdin 2014 in ihre Heimat Cizre zurück und wird mit sprunghaftem Erfolg zur Bürgermeisterin gewählt. Eine Karriere, die während der Friedensprozesse hoffnungsvoll beginnt und in einer Stadt voller Trümmern endet.

Wie alles begann

Fernab von Cizre sitzen Aslı und ich bei Sonnenschein und Cappuccino in einem der Höfe in Berlin Mitte. Die Dokumentarfilmerin beginnt zu erzählen: „Alles fing mit einem Zeitungsartikel über Leyla an. Ich las über diese junge Frau, die von Deutschland in die Türkei gegangen ist und wollte wissen: Wieso tut sie das? Was reizt sie daran?“

Bis der Kontakt zu Leyla hergestellt und das nötige Vertrauen aufgebaut waren, verging einige Zeit, so Aslı: „Als Dokumentarfilmerin muss man geduldig sein.“ Und das scheint ihr gelungen zu sein:  Die junge Bürgermeisterin willigte ein, Aslı in ihren Alltag aufzunehmen. Die Dreharbeiten für den durch die MFG Filmförderung und den SWR unterstützten Diplomfilm an der Filmakademie Baden-Württemberg konnten 2014 beginnen.

Was Leyla bewegt

Die ersten Bilder des Films stammen jedoch aus einer Zeit lange vor 2014: Die Szenen zeigen kriegerische Auseinandersetzungen in Cizre im Jahr 1993. Während dieser Gefechte stirbt Leylas Vater, der bei der PKK aktiv war. Mit fünf Jahren flieht sie zu ihren Verwandten nach Bremen, ihre Mutter und Schwester bleiben im türkischen Mersin. 21 Jahre später kommt sie „als Tochter dieser Stadt“, wie Aslı es ausdrückt, zurück und wird Bürgermeisterin für die prokurdische Partei HDP.

In dieser Rolle steht sie nicht nur für die Stadt ihres Vaters ein, sondern kämpft auch mit ihrer eigenen Vergangenheit: „Ich hatte immer das Gefühl, sie wolle die Narben ihrer Kindheit verdecken. Sie wollte den Kindern in Cizre nun die Kindheit ermöglichen, die sie selbst nie hatte. Und das tat sie mit Parks, mit Straßen, mit Ruhepolen für Kinder und Frauen“, sagt Aslı.

Der Film begleitet Leyla genau bei diesen Tätigkeiten. Er zeigt, wie Leyla als Bürgermeisterin gefeiert wird, wie euphorisch die kurdische Gemeinde beim Einzug der HDP in das Parlament ist, wie Leyla Straßen, Parks und Schlachthäuser plant.

Abrupter Wandel in Cizre

Wie sich die Drehbedingungen ihres Diplomfilms dann ändern, damit hätte Aslı niemals gerechnet. Während des Wahlkampfs für die Neuwahlen des türkischen Parlaments kommt es verstärkt zu Terroranschlägen – das Filmen wird schwieriger und das Team reist mehrfach aus. Leyla İmret wird von ihrem Dienst suspendiert und es wird Anklage gegen sie erhoben.

Zur Terrorbekämpfung rückt das türkische Militär in Cizre an. Es gibt mehrere Ausgangssperren. Die Dreharbeiten sind abgebrochen. Tagelang bekommt Aslı kein Lebenszeichen von Leyla:

„Als Dokumentarfilmerin bewegt man sich da im Spannungsfeld zwischen Nähe und Distanz. Natürlich gibt es zuerst die emotionale Ebene. Man fragt sich: Geht es ihr gut, lebt sie noch? Doch sobald ich das wusste, ging es auch wieder um die filmische Ebene: Wie kann ich dem Thema und Leyla als Person gerecht werden? Wie setze ich das Geschehene filmisch um?“

Die Herausforderungen der neuen Situation

Dann hieß es also, noch kreativer zu werden. Brüche und Änderungen im Drehbuch, die für Aslı nicht immer einfach waren und sie doch angetrieben haben: „Man muss sich auf die Dinge einlassen. Der Reiz des Dokumentarfilms ist gerade, dass er so nah am Leben ist und man die Situation in ihrer Entwicklung begleitet.“

An einen Abbruch der Dreharbeiten hat die junge Filmemacherin nicht gedacht. Die Frage danach scheint sie fast als ein wenig absurd zu empfinden. Es sei eher umgekehrt gewesen, meint sie: „Ich wollte filmen, aber konnte es nicht.“ Mit einer Delegation schafft sie es dann doch noch einmal nach Cizre, um die letzten Bilder dort alleine ohne das Team zu filmen.

Die Pflicht zu erzählen

Und Mühe und Mut haben sich gelohnt. Der Film wurde bereits auf zahlreichen Filmfestivals wie dem IDFA (International Documentary Filmfestival Amsterdam) und dem marokkanischen  Dokumentarfilm Festival FIDADOC, wo er mit dem Menschenrechtspreis ausgezeichnet wurde, gezeigt. Damit ist „Dil Leyla“ nach dem Film „Insel 36“ über das Geflüchtetencamp am Oranienplatz Berlin der zweite große Erfolg von Aslı Özarslan.

Immer wieder betont die Regisseurin im Gespräch eines: Sie wollte dem Thema gerecht werden und habe Leyla ein Versprechen gegeben. „Ich habe es als meine Pflicht gesehen, die Dinge zu erzählen – so wie Leyla auch.“

Als Aslı das sagt, sehe ich in meinem Kopf eine der letzten Szenen des Films: Leyla steht vor ihren Parteimitgliedern und erzählt von den über 300 zivilen Opfern während der Besatzung von Cizre. Da spüre ich sie wieder – die Schlinge, die mir die Geschichte des Films um den Hals legt.

Text: Marlene Resch
Fotos: Simon Feyrer