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Zwischenräume und große Fragen

"Der Geruch des Paradieses" von Elif Shafak

„Wenn ich ein Mensch bin, sollte mein Herz groß genug sein, um mit allen Menschen auf der Welt mitzufühlen“, sagt Professor Azur zu der jungen Peri in einem Gespräch über Gott und warnt danach vor Dogmatismus. So kann Elif Shafaks „Der Geruch des Paradieses“ verstanden werden: als eine Warnung vor einseitigen Betrachtungen und als Aufruf zu einer Wissenschaft, die nicht nur auf herkömmliche Methoden baut, sondern sich auch dem Glauben öffnet.

Der Roman ist ebenso magisch wie der Name der jungen Protagonistin: Peri, auf Deutsch Fee. Elif Shafak erzählt zeitraffend von Peris Kindheit bis zu dem Alter, in dem sie selbst eine jugendliche Tochter hat. Hierbei springt Shafak in der Zeit von den 1980er Jahren bis 2016 und zwischen den Orten Oxford und Istanbul mit einer solchen Leichtigkeit hin und her, dass über den gesamten Roman eine große Spannung aufrecht erhalten bleibt, die Leser aber dennoch nicht die Orientierung verlieren.

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Die große Spannung entsteht allerdings nicht nur durch die Wechsel, sondern auch durch die indirekten Anspielungen auf Peris mythischen Charakter sowie das Geheimnis um ihre Vergangenheit in Oxford. Peri ist als jüngste Tochter neben zwei Brüdern in Istanbul geboren. Während der eine Bruder Kommunist ist, ist der andere sehr religiös – sie sind ebenso unterschiedlich, wie die Eltern es sind: Der Vater ein liberaler Trinker und die Mutter eine konservative Gläubige. Peri fühlt sich irgendwo dazwischen. Dieses „Irgendwo dazwischen“ scheint sich durch ihr gesamtes Leben zu ziehen. Auch durch die Freundschaft mit Mona und Shirin, den beiden jungen Frauen, die sie an der Universität in Oxford kennen gelernt hat, die ebenfalls Professor Azurs Seminar über Gott besuchen und mit denen Peri schließlich in einem Haus lebt.

Der Versuch, das Leben harmonisch zu halten, führt zu Selbsthass

Nach Oxford hat es Peri verschlagen, weil ihr Vater, dem sie sehr nahe steht, für sie die bestmögliche Bildung wollte –  und sie auch vor der von ihm als Aberglaube bezeichneten Glauben ihrer Mutter zu bewahren. Peri ist fleißig, schuldbewusst und versucht Konflikten überwiegend aus dem Weg zu gehen, vor allem weil sie ihre ganze Kindheit unter der konfliktreichen Atmosphäre im Elternhaus verbracht hat. Dass es auch noch eine zweite Peri gibt, wird schon in den ersten Seiten deutlich, als Shafak Peri mit lakonisch auktorialem Erzählmodus als „gute Ehefrau, gute Mutter, gute Hausfrau, gute Bürgerin und gute moderne Muslima“ beschreibt. Der Versuch, das Leben ständig harmonisch zu halten, hält die Protagonistin manchmal in einer Sprachlosigkeit gefangen, die sie beinahe in Selbsthass treibt – warum bringt sie nie den Mut auf, Position zu beziehen und ihre Meinung zu äußern?

Mit Peri hat Shafak eine Figur erschaffen, die sich mit ihrem Widerstreben gegen Dualismen nirgendwo zugehörig fühlt. Gemeinsam mit ihren beiden Studienfreundinnen steht sie für einen gesellschaftlichen Stereotyp, den die Autorin nutzt, um Vorurteile aufzudecken und festgefahrene Bilder zu hinterfragen. Peri erhält dabei eine exemplarische Rolle: „Ich stehe immer auf der Seite der jeweils Machtlosen und Benachteiligten und spreche mich deshalb nie für irgendwen Bestimmten aus,“ sagt sie zu ihren beiden über den Islam streitenden Freundinnen, von denen wieder eine atheistisch lebt, die andere Muslimin ist.

Als würde es in dieser Welt keinen Platz geben für Dinge, die nicht entweder schwarz oder weiß sind, verstehen die beiden anderen Frauen Peri nicht. Da hingegen ihr Professor Azur sie versteht, wird er für sie zur Faszination schlechthin. Dabei verstrickt sie sich immer mehr in ihre Gefühle und gerät in eine missliche Lage, die sich von Beginn an geheimnisvoll durch den Roman zieht und die Leser bis zur Auflösung nicht mehr loslässt.

Shafak stellt offen die großen Fragen jeder Generation

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Shafak erzählt von einem poetischen Istanbul, in dem „die Häuser aneinander lehnen“. Zugleich beschreibt sie die Stadt mit ihrem hohen Verkehrsaufkommen, ihren Ungeheuern und ihrem Wahnsinn. Sensibel, mit Fingerspitzengefühl und Scharfsinn tastet sich die Autorin an das aufwühlende Lebensgefühl Istanbuls heran. Geboren ist Elif Shafak in Straßburg, lebt aber mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern derzeit in London und Istanbul, sodass sie die Stadt selbst gut kennt. Studiert und promoviert hat Shafak in Ankara. Die Themen ihrer wissenschaftlichen Arbeiten finden sich auch in ihren literarischen Werken wieder. Ihren Master hat sie in „Gender und Women’s Studies“ absolviert, in Politikwissenschaften hat sie promoviert.

Versteckt Shafak anfangs Peris politische Haltung noch wie in einer ironischen Spurensuche zwischen den Zeilen, wird diese über die Erzählung hinweg zunehmend deutlicher und ist später aus dem Roman nicht mehr wegzudenken. Eher zufällig, aber doch direkt thematisiert Shafak Politik, ohne dass sie zum Gegenstand der Handlung wird und schärft so die Sinne für eine pluralistische, auf Zusammenhängen basierende und zukunftsorientierte Staatsführung.

„Der Geruch des Paradieses“ ist eine Erzählung, die sich aus einer jungen, offenen Sicht an die großen Fragen jeder Generation –  Wie können wir uns in welchen politischen Systemen verhalten? Wie verhält sich unser Leben zu Gott? – herantraut und sich dabei genau wie die zweite Protagonistin, Istanbul, immer zwischen Orient und Okzident bewegt. Shafaks Buch ist nicht nur gedacht für alle, die in diesen Räumen leben, sondern auch für alle anderen, die diese „Zwischenräume“ verstehen möchten.

Elif Shafak: Der Geruch des Paradieses
Kein und Aber (25 Euro)

Text: Carina Plinke
Fotos:
Tolga Aksüt, Carina Plinke, Inci Cabir

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