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Die Haltlosen von Oğuz Atay

Bücher, die Orhan Pamuk nicht geschrieben hat

In den ersten Zügen der Lektüre bedauerte ich gleich, dass ich nur in Grundzügen Türkisch spreche und es nicht in Ansätzen ausreichen würde, um das Werk „Die Haltlosen“ von Oğuz Atay auf Türkisch zu lesen. Mit der Melodie und Poesie des Türkischen aber in Ansätzen vertraut, reichte es aus, immerhin den Wunsch zu formulieren, es im Original zu lesen. Immer wieder unterbrach ich während der Lektüre und versuchte mir vorzustellen, wie sich der Roman wohl auf Türkisch anfühlen würde.

Es wird mir vermutlich ein Geheimnis bleiben. Aber dank des Verlags binooki und des Übersetzers Johannes Neuner liegt der Roman „Die Haltlosen“ zum ersten Mal auf Deutsch vor und ist so bedrückend beeindruckend, wie beeindruckend bedrückend. Zum einen wegen seines Umfanges von 786 Seiten, zum anderen wegen seines Inhaltes: Selim, ein Jugendfreund von Turgut, hat Suizid begangen. Turgut, gut situiert, Bauingenieur, verheiratet und Vater von zwei Töchtern, wird von dieser Nachricht in der Zeitung überrascht und kann den Tod des Freundes „nicht einfach gleichgültig hinnehmen, in dem sicheren Gespür, dass es ohnehin irgendwann enden würde.“

Die Gefahr, beim Lesen selbst den Atem zu verlieren, ist jederzeit gegeben

Turgut steht also bis zum Selbstmord Selims mit beiden Beinen fest im Leben, wird dann aber durch das Vermächtnis von Selims Tagebüchern auch vom Gefühl der Haltlosigkeit ergriffen. Er macht sich auf eine kräftezehrende Suche nach den Gründen für Selims Selbstmord, spricht mit Jugendfreunden und ehemaligen Kommiliton*innen.

Selims Freunde und Bekannte sprechen durch den Erzähler, Turgut liest Selims Tagebuch, führt Diskurse mit dem Toten und die auktoriale Erzählstimme erzählt. Die Leser*innen werden während ihres Blickes über Turguts Schulter in Selims Leben immer wieder zum Einhalten, zum Luft Holen gezwungen. Dabei ist „Die Haltlosen“ eigentlich aufgrund seines sprachlichen Tempos eher so erzählt, als würde die Geschichte keine Zeit zum Atmen lassen wollen. Seinen Höhepunkt findet dies in Kapitel 15. Im Bewusstseinsstrom Günselis verzichtet der Autor vollständig auf Satzzeichen.

Die Gefahr, selbst den Atem zu verlieren, ist trotz des Buchumfanges aufgrund der Rhetorik und des Erzähltempos jederzeit gegeben. Das liegt auch an vielen verschachtelten Sätzen und der hohen Intertextualität, welche die permanente gedankliche Mitarbeit der Leser*innen voraussetzt und an keiner Stelle im Buch, leider auch nicht in einem Nachwort, erklärt wird.

„Die Haltlosen“ besteht aus Fragmenten, die auch in der sprachlichen Darstellungsform sehr divers sind. Es ist keine monochrone Geschichte. In den unterschiedlichsten literarischen Formen begleiten die Leser*innen Turgut auf dem Weg von Stabilität ins Haltlose. Deutlich wird dies zum Beispiel in einem Gespräch zwischen dem toten Selim und Turgut. Dort spricht Selim von der Wissenschaft als etwas, das sich in das Leben einmischt, es kaputt analysiert. Das Leben, von dem nicht jede*r etwas verstünde und diejenigen, die etwas vom Leben verstünden, unter dem Druck des “Verstehenwollens” leiden.

Im Diskurs sprechen Bürger und Akademiker miteinander, Bodenständigkeit und Überheblichkeit, ein aufdringlicher, beständiger Konflikt des Lebens. So wie es persönliche und wissenschaftliche Wege gibt, an Probleme heranzugehen, können sich Menschen, die einen Sinn für beides haben, oft nicht für einen Weg entscheiden und verlieren den Halt. Diese Gedanken hinterlassen Spuren und nur „wenn du wie ein Schwachsinniger eine Maske der Gefühlslosigkeit über dein Gesicht legst, dann wirst du für immer jung aussehen“.

Atay gelingt es genial, Sprache und Inhalt zu verknüpfen

Selim geht zu Grunde. An seinen Mitmenschen, der Fadheit des Lebens, an dem was die Menschen versuchen zu sein und nicht sein können, an dem, was er selbst versucht zu sein und nicht sein kann. Seine eigenen Unzulänglichkeiten werden für ihn zur Last. Enzyklopädisch wird bestätigt: „Der Haltlose ist ein unbeholfenes und furchtsames Tier.“ Es wird geplagt von unerklärlichen Gewissensbissen und spontanen Selbstbeschuldigungen, die sich zwischen individuellen Bedürfnissen, gesellschaftlichen Anforderungen und staatlichen Zwängen bewegen.

Hierbei ist das Buch voller Themen: Schreiben gegen das Vergessen, Aufarbeitung der Vergangenheit, religiöse und weltanschauliche Differenzen in einer jungen, vom Bürgerkrieg und vom in das gesellschaftliche Leben eingreifenden Militär gebeutelten Republik, der Sehnsucht, angenommen zu werden, Zerrissenheit zwischen westlichen und östlichen Werten und politischen sowie geistlichen Vorbildern, sexuelle Lust, der Prozess, das Wesen des Partners aus den Augen verlieren und allem voran der Versuch, den Bezug zu sich selbst und dem Leben nicht zu verlieren.

atay

Atays „Die Haltlosen“ wurde 1972 erstveröffentlicht. Er selbst war ebenso wie seine beiden Protagonisten Selim und Turgut Student des Bauingenieurwesens und ab 1960 Dozent an der Technischen Universität Istanbuls. Atay nimmt in „Die Haltlosen“ dem Leben in Istanbul durch die Beschreibung der chaotischen, zeitfressenden Verkehrssituation den Glanz, allerdings nur ein bisschen. Denn auch, wenn die Busfahrten für Selim unglaublich belastend sind, entstehen in dieser Zeit aus der Not heraus kreative Ideen für Spiele. Möglicherweise ging es Atay auch so mit seiner Idee für dieses Buch? Denn Worte belagern und bestürmen auch Selim von allen Seiten und es ist Turgut, der in „Die Haltlosen“ dieses Vermächtnis bis zu seinem eigenen Verschwinden in den Händen hält. Wohin? Das möge jede*r Leser*in selbst herausfinden.

Möglicherweise ist es die Macht der Sprache, die Selim und Turgut so auslaugt. Atay hat es literarisch genial bewältigt (und der Übersetzer hat das literarische Spiel gut transportiert), Inhalt und Sprache so authentisch miteinander verknüpft, dass mensch das Gefühl hat, nach der hochkonzentrierten Lektüre, um keine groteske Ironie oder raffinierte Rhetorik misszuverstehen, selbst ausgelaugt zu sein.

„Die Haltlosen“ ist ein gewaltiges Stück türkischer Literatur, eine Herausforderung, die man annehmen sollte, mit viel Kaffee, mit viel Schokolade und mit viel Durchhaltevermögen, um zu spüren, dass Schreiben immer ein Weg gegen das Vergessen und Vergessenwerden ist.

Oğuz Atay, Die Haltlosen, binooki, 29,80 Euro
Der Roman ist hier erhältlich.

Text: Carina Plinke
Foto: Sabrina Raap, binooki