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Was den Islam mit Sankt Martin verbindet

Vom Spenden und Pilgern

Der Blick in meine sozialen Netzwerke zeigt dieser Tage wieder viele Fotos von gebratenen Gänsen und bunten Laternen. Auch wenn ich mich mit Stolz einen Istanbullu nenne, so wecken die Fotos meiner Freund*innen aus der alten Heimat doch zahlreiche Erinnerungen. Nicht, dass ich mich nach dem Geschmack einer Gans sehnen würde, doch in einen Weckmann zu beißen oder abends auf dem Heimweg einem römischen Soldaten auf seinem Pferd zu begegnen, würde mich schon reizen.

Vom Soldaten zum Bischof zum Heiligen

Einige Tage vor und nach dem 11. November, dem Tag der Grablegung Sankt Martins, ehren überwiegend katholische Gebiete einen ihrer berühmtesten Heiligen. Viele Bräuche wurzeln in den Legenden um den römischen Soldaten aus der Zeit der Christianisierung Europas, der eine Totenerweckung und andere Wunder vollbracht haben soll. Die wohl bekannteste Legende besagt, dass er vor den Toren Amiens (Frankreich) einen armen frierenden Mann sah. Da Martin nichts außer seinen Waffen und dem typischen Militärmantel bei sich hatte, zerteilte er kurzerhand seinen Mantel. Eine Hälfte übergab er dem Notleidenden. Daraufhin soll ihm Jesus im Traum erschienen sein, bekleidet mit eben jener gespendeten Mantelhälfte. Diese Geschichte erinnert auch an die Bibel: „Ich war nackt und ihr habt mir Kleidung gegeben. […] Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ (Mt 25,35–40) – eine Bibelstelle, die immer wieder in Predigten zitiert wird, wenn es um die Aufforderung zu Wohltaten geht.

Nach seiner Zeit beim Militär machte sich Martin in der jungen christlichen Gemeinde einen Namen und sollte zum Bischof von Tours (Frankreich) ernannt werden. Eine der Legenden behauptet nun, dass er dies zunächst ablehnte. Er versteckte sich vor den Bürger*innen der Stadt in einem Gänsestall, doch die Tiere verrieten ihn durch lautes Schnattern. Das soll angeblich der Ursprung gewesen sein, zu seinem Gedenktag eine Festgans zu verspeisen. Die Tradition des Laternenumzugs steht in Verbindung mit seinem Tod, denn Martins Leichnam wurde von zahlreichen Anteilnehmenden in einer Lichterprozession nach Tours gebracht.

Muhammed sprach kein Deutsch, aber er sang Martinslieder

Noch heute ziehen in Deutschland jedes Jahr Kinder durch die Straßen und folgen einem als Sankt Martin verkleideten Mann. Sie führen selbst gebastelte Laternen mit sich und singen dabei „Ich geh mit meiner Laterne; und meine Laterne mit mir“ oder „Sankt Martin ritt durch Schnee und Wind; sein Ross, das trug ihn fort geschwind; Sankt Martin ritt mit leichtem Mut; Sein Mantel deckt’ ihn warm und gut“.

An diese Lieder erinnert sich auch Muhammed Yilmaz, der in Hanau aufwuchs und heute in Frankfurt lebt: „Ich bastelte im Kindergarten mithilfe meiner Betreuerin eine Laterne, die ich dann voller Stolz am Abend mit einem Teelicht beleuchtete.“ Mit der Laterne ging es dann zum Umzug, der am Martinsfeuer auf dem Hof des Kindergartens endete. Trotz des sehr hohen Anteils an türkischen Kindern und Eltern feierten alle zusammen diesen katholischen Brauch. „Für mich persönlich war es auch deswegen so besonders“, erzählt Muhammed weiter, „weil ich das Martinslied vor der Gemeinschaft gesungen habe. Meine Mutter sagt, dass sie sehr stolz auf mich war. Zumal ich zu diesem Zeitpunkt noch gar kein Deutsch konnte. Ich hatte offensichtlich einfach die Worte auswendig gelernt, die wir in unserer Kindergartengruppe wochenlang gesungen hatten.“ Was es bedeutet, Teil einer Gemeinschaft zu sein, hatte Muhammed so schon als kleiner Junge gelernt. Dass dazu auch die Unterstützung der Schwächsten gehört, ist für ihn heute in seiner Religion genauso selbstverständlich, wie es für den einstigen Soldaten von Rom und späteren Bischof von Tours war.

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Wer mehr als 85 Gramm Gold hat, muss spenden

Im Unterschied zum Christentum gibt es im sunnitischen Islam jedoch eine verpflichtende Spende, die Almosensteuer. Als Dritte der fünf Säulen des Islams ist die Zekat genauso wichtig wie das tägliche Beten oder der Fastenmonat Ramadan. „Verpflichtet sind Muslime, die geschäftsfähig sind und über ein gewisses Vermögen verfügen“, erklärt mir Muhammed, „das Vermögen muss dabei bereits ein Jahr bestehen und den Wert von 85 Gramm Gold übersteigen.“ Diese Grenze, die Nisab genannt wird, liegt heute bei ungefähr 3000 €. Gemeint ist allerdings nicht der ganze Besitz, sondern nur jener, der über den täglichen Bedarf hinausgeht. Das eigene Haus, Möbel und Kleidung gehören also nicht dazu. Von allen darüberhinausgehenden Besitztümern eines „wohlhabenden“ Muslims sind 2,5 % als Zekat vorgesehen.
Es hat sich unter Muslim*innen etabliert, die Steuer meist gegen Ende des Ramadan zu entrichten. Hier zeigt sich eine Gemeinsamkeit mit dem Martinstag in Europa. Denn der 11. November markierte lange Zeit das Ende eines Geschäftsjahres und den Stichtag, an dem Steuern und Abgaben zu entrichten waren.

Almosensteuer und Spende führen den eigenen Reichtum vor Augen

Manch muslimische Länder, darunter Saudi Arabien und Malaysia, treiben die Steuer staatlich ein und verteilen sie entsprechend der Vorgaben des Korans. In der Türkei ist das anders. Hier kann sich der Spender selbst entscheiden, wem er die Zekat zukommen lassen möchte. „Ich supporte mit meiner Spende seit Jahren ein Projekt, auf das ich bei meiner Reise in Indonesien gestoßen bin“, erzählt Muhammed. „Dort wird Kindern, die im wahrsten Sinne des Wortes auf einem Müllberg leben, nicht nur eine Bildungsmöglichkeit geboten, sondern auch etwas Freizeit.“

Auf diversen islamischen Webseiten, darunter auch die der DITIB (Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e.V.), wird die Zekat als Solidaritätsmaßnahme gepriesen, die den Unterschied zwischen Arm und Reich bekämpfen soll und die Gläubigen lehre, sich auch um die Schwächsten zu kümmern. Kritiker jedoch zweifeln den Lerneffekt einer Zwangsabgabe an. Eine freiwillige Abgabe würde den Gläubigen die Entscheidung selbst überlassen, ob sie Gutes vollbringen wollen oder nicht. Muhammad aber begrüßt die „verpflichtende“ Umverteilung: „Zum einen sind 2,5 % so gering, dass es den Vermögenden nicht weh tut und zum anderen ist das eine jährliche Abrechnung, die mir persönlich immer vor Augen hält, wie gut es mir doch geht.“ Außerdem könne man natürlich neben der Zekat auch noch zusätzlich spenden. Das macht Muhammed häufig nach besonderen Ereignissen, wie zum Beispiel Naturkatastrophen.

Für die Einen Pflicht, für die Anderen Option

Doch nicht alle Muslim*innen in und aus der Türkei betrachten die Zekat als verpflichtend. Für Alevit*innen steht das Streben, ein guter Mensch zu sein, im Vordergrund. Die fünf Säulen des Islams betrachten sie als optional. Das betrifft nicht nur die Almosensteuer, sondern auch die fünfte Säule, die Pilgerfahrt nach Mekka. Eine der meist verehrtesten Personen im Alevitentum, der Mystiker Hacı Bektaş aus dem 13. Jahrhundert, sagte einmal: „Andere haben die Kaaba, meine Kaaba ist der Mensch“. Die Anhänger*innen des nach ihm benannten Sufi-Ordens und auch die Alevit*innen können sich daher auf die Reise nach Mekka machen, müssen dies aber nicht. Tatsächlich pilgern Alevit*innen öfter nach Kerbela (Irak), da hier das Grab von Hussein, dem Sohn Alis und Enkel des Propheten Mohammeds, ebenfalls eine der wichtigsten Personen im Alevitentum, liegt.

Einmal im Leben nach Mekka pilgern

Doch zurück zur fünften Säule im sunnitischen Islam und damit zu der Pilgerfahrt nach Mekka: Hier gibt es zwei Varianten. Zum einen die verpflichtende Hac (dt. Hadsch) und zum anderen die freiwillige Umra. Der Unterschied besteht lediglich darin, dass die Hac nur zu einem bestimmten Zeitraum begangen werden kann, nämlich während des Opferfestes im letzten Monat des islamischen Mondkalenders. Der Ursprung der muslimischen Wallfahrt findet sich schon im Koran. Hier heißt es in Sure 3 Vers 97: „Und die Menschen sind Gott gegenüber verpflichtet, die Wallfahrt nach dem Haus zu machen – soweit sie dazu eine Möglichkeit finden.“ Daraus lässt sich auch ableiten, dass die Pflicht nicht für alle Muslim*innen besteht – Schwangere Frauen, Kranke und arme Menschen sind von dieser Aufgabe befreit. Jedoch soll jede*r, die oder der dazu imstande ist, einmal im Leben die Hac absolvieren.
In Mekka angekommen treten die Gläubigen in einen speziellen Weihezustand über, in dem sie die unterschiedlichen Stationen ihrer Pilgerreise ablaufen. Erkennbar wird dieser Zustand durch das Tragen weißer Gewänder – Schmuck oder andere hervorstechende Merkmale sind nicht erlaubt. Muhammed erklärt mir dazu: „Bezeichnend ist, dass die islamische Kleiderordnung auch an einer anderen Stelle eine so präzise Anordnung trifft. Die Bestattung erfolgt ebenfalls in einem simplen weißen Tuch.“

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Von der Steinigung des Teufels bis zum gemeinsamen Gebet

So ausgestattet machen sich die Gläubigen auf eine mehrtägige Reise, die sie vom Zentralheiligtum in Mekka zum Berg Arafat, wo Mohammed seine letzte Predigt hielt, und wieder zurück nach Mekka führt. Unterwegs gibt es verschiedene wichtige Stationen, an denen Rituale durchgeführt werden. In Mina werden beispielsweise sieben (oder ein Vielfaches von Sieben) kleine Steinchen gegen die Dschamarat al-Aqaba geworfen. Diese Steinwand symbolisiert den Teufel und das Werfen der Steinchen soll eine Steinigung des Teufels darstellen. Zeitgleich markiert dieser Tag auch den Beginn der dreitägigen rituellen Opferschlachtungen.

Zurück in Mekka kommt es zum Höhepunkt der Wallfahrt. Muhammed, der bereits eine Umra mitgemacht hat, schildert seine Eindrücke so: „Man umläuft dabei mit Hunderten und Tausenden von Menschen unterschiedlicher Kulturen, Geschlechtern, Sprachen, Berufen und vor allem mit ganz individuellen Wünschen und Hoffnungen dieses quadratische Gebäude namens Kaaba. Wenn der Muezzin dann zum Gebet ruft, du neben einer Ärztin aus Indien, einem Hausmeister aus Schweden und einem Kebabmann aus Argentinien das rituelle Gebet praktizierst, merkst du vor allen Dingen eines: Eigentlich sind wir doch alle gleich.“

Letztlich leben und glauben wir unter demselben Dach

Ich muss wieder an Sankt Martin denken. Denn auch sein Grab wurde zu einer Wallfahrtsstätte, die ein Ziel vieler christlicher Pilger war und ist. Wenn sich auch die einzelnen Rituale und Zielorte in Islam und Christentum unterscheiden, so sind die großen Linien doch sehr ähnlich. Auch die Gefühle und Gedanken der Gläubigen scheinen näher aneinander zu liegen, als es vielen Menschen oft bewusst ist. Ich merke das auch, als Muhammed mir die Erlebnisse seiner Umra schildert. Ähnliche Eindrücke schilderten mir auch Christen, die beispielsweise den Jakobsweg pilgerten oder sich zum Weltjugendtag versammelten. Muhammed sagt: „Es war eine sehr berührende Erfahrung. Ohne es abwertend oder sonst negativ zu meinen, ist es wie Woodstock ohne Drogen, Alkohol und Sex. Alle sind sehr empathisch und sehr positiv.“
Und was mache ich, der atheistische Istanbullu? Ich werde mir nach dem Schreiben dieses Artikels ein Rezept für Weckmänner im Internet suchen. Dann werde ich diesen katholischen Brauch backen und an die muslimischen Kinder bei uns im Haus verteilen. Für mich kommt es nämlich nicht darauf an, was jemand glaubt, sondern dass wir alle mit unseren Traditionen und Bräuchen in Frieden und guter Nachbarschaft zusammenleben können.

Text: Navid Linnemann
Illustration: Seda Demiriz