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Was ich mir von der Zivilgesellschaft wünsche wäre, ein besseres Feingefühl dafür zu entwickeln, dass es nicht nur Deutschland auf der einen, die Türkei auf der anderen Seite und “Deutschtürken” oder “Almancis” dazwischen gibt.

Heute versuche ich, mich nicht als Deutsche, Türkin, oder Deutschtürkin zu identifizieren, sondern als Weltbürgerin, weil das Denken in Nationen meiner Meinung nach hinderlich ist. Aber natürlich haben mich beide Kulturen geprägt, und ich begegne immer wieder Situationen, in denen ich mich – und alle anderen um mich herum auch – einer bestimmten Kultur, Vergangenheit, Identität zuordne, und mich und meine Umwelt danach beurteile. Als heranwachsendes Kind wird man ganz langsam in die vermeintliche Wirklichkeit der Außenwelt gesogen, in der die Umwelt und die Mitmenschen beobachtet, analysiert, klassifiziert, und schließlich beurteilt werden. Es fängt damit an, dass man als Kind gefragt wird, welches Land man lieber mag, oder ob man besser Türkisch oder Deutsch spricht und dafür eine konkrete Antwort geben muss. Später wird von jedem Einzelnen von uns eine Meinung oder ein Urteil zu bestimmten Themen erwartet, vor allem wenn sie in den Medien besonders präsent sind.

Momentan sind die türkisch-deutschen Beziehungen ein solches Präsenzthema. Und mit Blick auf die gegenwärtige, gespaltene Stimmung zwischen Deutschland und der Türkei habe ich mich selbst noch nie gespaltener gefühlt. Durch diese zwei Lager, die entstehen, fühle ich mich und meine Identität immer mehr in “zwei Leben” hineingepresst, und muss gleichzeitig einen scheinbar immer größeren Spagat machen, um in beiden irgendwie noch einen Fuß behalten zu können. Dabei existieren sie in Wirklichkeit nicht. Es handelt sich lediglich um ein schwarzweißes Phantombild, das durch die Medien und die Gesellschaft kollektiv gezeichnet und immer weiter polarisiert wird. Mit dieser politischen Polarisierung zieht man allen Menschen, die in/ zwischen/ mit beiden Kulturen leben, den Boden unter den Füßen weg. Man verleugnet die Komplexität des gesamten Themas, vor allem aber jede persönliche und emotionale Identifizierung von Einzelpersonen, die sich vermeintlich angesprochen fühlen müssen, oder aber bewusst fühlen wollen, aber nicht in dieses Bild passen. Dabei sind die geschichtliche Vergangenheit und die politischen Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei ein Sinnbild dafür, dass man Geschehnisse selten zeitlich und sachlich getrennt voneinander betrachten kann.

Was ich mir von der Zivilgesellschaft wünsche wäre, ein besseres Feingefühl dafür zu entwickeln, dass es nicht nur Deutschland auf der einen, die Türkei auf der anderen Seite und “Deutschtürken” oder “Almancis” dazwischen gibt. Dass es nicht links und rechts, nicht konservativ und laizistisch gibt. Das Ziehen von Grenzen dient der Erschließung eines Themas, aber sie können niemals die Realität der Gesamtthematik wiedergeben. Man sollte nicht an ihnen festhalten, sondern die eigene Identifikation und die anderer immer wieder selbstkritisch betrachten, egal ob es Grenzen von Nationen, Identitäten oder Ideologien sind. Denn all diese Dinge sind vermeintlich stabile Illusionen, an denen wir uns der Einfachheit halber festzuhalten versuchen.

Yasemin Bodur

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