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Auf den Bühnen Istanbuls – Was in der freien Theaterszene der Stadt los ist

Freie Theatergruppen gibt es in der Türkei bereits seit den 60er Jahren. Damals noch genauso gut besucht wie das staatliche Theater und mit dem Luxus einer eigenen, zentral gelegenen Bühne (meist auf der berühmten Flaniermeile İstiklal Caddesi in Taksim) ausgestattet, verloren diese Häuser über die Jahre an Publikum. Viele Bühnen wurden geschlossen oder in Seitenstraßen meist abgelegener Viertel zurückgedrängt. In den 2000ern kam dann wieder neuer Schwung in die Szene, und seit 2010 steigt die Zahl freier Theatergruppen in der Türkei rasant an.

Die Gründe für diese erfreuliche Entwicklung sind allerdings weniger schön: Zum einen gibt es im Land zu wenig staatlich subventionierte Bühnen und Schauspielhäuser, dafür aber zu viele Schauspiel-Absolventen, die nach dem Abschluss des Konservatoriums arbeitslos sind. Zum anderen mangelt es der Kulturpolitik des Landes an Kontinuität. Aufgrund der unsicheren politischen Verhältnisse ändert sich häufig die Zusammenstellung des Kabinetts und damit auch der entsprechende Minister. Dieser trägt übrigens in der Türkei den Titel „Minister für Tourismus und Kultur“, was auf ein weiteres Problem hindeutet: Kunst- und Kulturangelegenheiten müssen stets hinter wirtschaftlich relevanteren Belangen der Tourismusbranche zurückstecken. Nicht zuletzt spielt noch staatliche Zensur in der Türkei eine wesentliche Rolle, sodass besonders junge Theatermacherinnen, die sich in ihrem kreativen Wirken gehindert fühlen, Ausweichmöglichkeiten suchen.

Die Lösung haben sie daher in der Etablierung und Gestaltung eigener Aufführungsräume gefunden: Stillgelegte Produktionsstätten, alte Depots, umgebaute Souterrain-Wohnungen verwitterter Häuser und auch schon mal ein ehemaliger Billard-Salon werden zweckentfremdet und in Theater mit Platz für oft nicht mehr als 30 bis 100 Zuschauende verwandelt. Dadurch entstand die freie Theaterszene als Underground-Milieu. Der Zuschauer hat das Gefühl, im Wohnzimmer der Protagonisten mitten im Geschehen zu sitzen. Die Schauspielerinnen fühlen im Gegenzug fast schon den Atem des Zuschauers im Nacken, spüren jede noch so kleine Gefühlsregung. Vor und nach der Aufführung laufen sich beide im „Foyer“ über den Weg. Möglicherweise ist diese Intimität auch der Grund, weshalb die Gruppen mit ihrem Stammpublikum fast schon zu Kampf-Kollektiven verschmelzen, um ihr Theater gegen finanzielle Mittellosigkeit und politische Ignoranz und damit vor dem Untergang zu schützen. Die Solidarität zeichnet sich auch in dem Verhältnis der freien Theatergruppen untereinander ab: Viele dieser kleinen Schauspielhäuser vermieten oder verleihen ihre Bühnen an andere freie Ensembles, denen die Mittel für ein eigenes Theaterhaus fehlen. Somit verstehen sich diese Gruppen nicht als „alternative“ Häuser, wie sie oft tituliert werden, da sie nicht darum bemüht sind, eine Alternative zu den etablierten Häusern zu schaffen, sondern lediglich Theater zu machen. Alternativ sind nur ihre Bühnenverhältnisse, weil sie Vielfalt und Abwechslungsreichtum in der Beziehung zwischen Zuschauerraum und Spielraum schaffen.

Entsprechend unkonventionell werden diese Theater auch geleitet. Da der Staat und die Städte sie nicht unterstützen, sind ihre größten Herausforderungen demzufolge finanzieller Natur. Theaterbetriebe müssen gewerbliche Vorschriften einhalten, um Tickets verkaufen zu dürfen. Der Mangel an professionellem Personal zwingt die Kunstschaffenden, sich eigenhändig um Verkauf, unverhältnismäßig hohe Steuerabgaben, Betriebsführung, Marketing, Produktion und künstlerische Darbietung gleichzeitig zu kümmern. Viele schreiben ohnehin ihre Stücke selbst, spielen, führen Regie und machen ihre eigene PR. Dass sie daneben auch noch unternehmerisch handeln müssen, macht ihr Berufsfeld umso prekärer. Die für türkische Verhältnisse relativ teuren Eintrittspreise von durchschnittlich 50 TL (ca. 15 Euro) und nur seltenen Zuwendungen von Sponsoren, für die diese Bühnen aufgrund geringer Zuschauerkapazitäten wenig attraktiv sind, reichen gerade dafür aus, die laufenden Produktionskosten zu decken. Nur wenige Theater können diesen Herausforderungen standhalten.

Doch „die Überlebenden“ konzentrieren sich auf die Vorteile: Die allgemeine Minimalisierung, was Darstellerzahl, Bühnenbild und Kostüme anbelangt, führt auch zu einem neuen Theaterverständnis in Gesellschaft und Kulturbetrieb. Viele Regisseurinnen und Schauspieler verstehen sich immer mehr als Vermittelnde einer Kunstauffassung, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt und nicht viel mehr braucht als Kreativität und Phantasie, um mit geringen Mitteln gute Ideen zu entwickeln. Hier kann Unkonventionelles entstehen, auch thematisch kann man unabhängig bleiben. Was in der Gesellschaft oft verschwiegen oder unterdrückt wird, sprechen diese Gruppen bewusst auf der Bühne an: Minderheiten und „Othering“, Migration, Geschlechterdiskriminierung, Flüchtlingsproblematik, aber auch die Alltagsprobleme des urbanen Menschen. Somit ist ein vielfältiges und teilweise multilinguales Theater der bisher Unverstandenen entstanden, das auch Einfluss nimmt auf die Mentalität des Publikums, ihren Geschmack verfeinert und ihre Erwartungen hebt. Die neue Vielfalt auf den Bühnen trainiert den türkischen „Kulturkonsumenten“, gute von schlechten Produktionen zu unterscheiden. Denn darin lag bisher dessen größte Schwäche.

Trotz aller Schwierigkeiten, mit denen die freien Bühnen konfrontiert sind, haben sich einige Theater glücklicherweise durchgesetzt und über die Jahre mit tollen Projekten einen Namen gemacht. Falls ihr Lust habt zu erfahren, welche das sind, dann werft einen Blick auf unseren Artikel „Auf den Bühnen Istanbuls – Zehn freie Theater, die man kennen sollte“.

Text: Dilşad Budak-Sarıoğlu
Fotos: Entropi Sahne, DOT
Redaktion: Judith Blumberg

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