Als ich vor 4 Jahren für das Studium nach Berlin gezogen bin, zog es mich wie selbstverständlich nach Neukölln. „Multikulturell, jung und hip“ – das hört man meistens über diesen Bezirk, in dem ich letztendlich eineinhalb Jahre in einer 1-Zimmer-Wohnung lebte. Um ehrlich zu sein, war mir anfangs gar nicht bewusst, dass ich in einem der begehrtesten Kieze Berlins wohnte, dem Schillerkiez. Bemerkbar machte sich dies nach und nach durch die zahlreichen Eröffnungen von Bars, Cafés und nicht zuletzt durch eine Mieterhöhung von satten 50 €.
Lebten in meinem Haus anfangs vor allem noch Menschen mit einem türkischen Familiennamen auf dem Klingelschild, waren es bei meinem Auszug nur noch wenige. Im Hausflur begegneten mir nun vermehrt englischsprachige Menschen. Meine neue Nachbarin begrüßte mich mit einem freundlichen “Nice to meet you“ und stellte nach wenigen Minuten lächelnd fest: “The flats here are incredibly cheap!“ Am Ende haben nicht nur die türkischen Namen die Klingelschilder verlassen, sondern auch meiner.
Der Magnet Tarlabaşı
Auch in Istanbul sagt das Wohnviertel viel über den eigenen sowie den im Kiez vorherrschenden Lebensstil aus. Besonders Erasmus-Student*innen zieht es in die angesagten Gegenden wie Cihangir, Kadıköy und Beşiktaş. Und seit einiger Zeit auch nach Tarlabaşı. In Tarlabaşı wohnen seit den 90er Jahren viele Kurd*innen, viele arme Menschen und seit dem vergangenen Jahr viele Flüchtlingsfamilien. Der Ruf des Viertels war viele Jahre schlecht, selbst die Polizei habe sich nicht hereingetraut, erzählen Istanbuler. Doch durch seine Nähe zur İstiklal Caddesi und die günstigen Mietpreise blieb das Viertel attraktiv und wird seit einigen Jahren immer mehr zum Magneten für internationale Student*innen. Auch ich habe in Tarlabaşı gewohnt und festgestellt, wie sich die engen Straßen mit den oftmals zerfallenen Gebäuden im Laufe der Zeit veränderten. Wie vergleichbar sind Gentrifizierungsprozesse in unterschiedlichen Städten und Ländern? War ich wirklich im „Neukölln Istanbuls“?
Neue Welten
Auch wenn immer mehr internationale Student*innen nach Tarlabaşı ziehen, sind es nicht sie, die den Geist des Viertels verändern: Tarlabaşı steht vor allem im Fokus politischer Stadtentwicklungspläne. Angedacht ist eine komplette Umgestaltung des Viertels und der Bau von Bürogebäuden, Luxus-Appartements und Straßen, die von Restaurant und Cafés gesäumt werden. Bis diese Pläne jedoch in die Tat umgesetzt werden können, zieht sich ein riesiges Bauplakat über den Tarlabaşı-Boulevard, die Straße parallel zur İstiklal Caddesi. Darauf zu erkennen ist neben dem obligatorischen Handschlag zwischen Präsident Erdoğan und Ahmet Misbah Demircan, dem Bürgermeister des Istanbuler Stadtteils Beyoğlu, das Tarlabaşı der „Zukunft“ – Menschen, die sich in den modernen Straßenzügen tummeln, ein Opa, der sein Enkelkind auf dem Arm hält. Auf der Internetseite des Tarlabaşı 360-Projektes wird zudem mit Slogans wie “Tarihi Yeniden Yazıyoruz“ (“We Rewrite History“) oder “İstanbul´un Yeni Değeri“ (“The New Value of Istanbul“) geworben. Der Lifestyle, der durch dieses Projekt kreiert werden soll, steht in keinem Vergleich zur Lebensrealität in Tarlabaşı.
Gefühlte Wirklichkeiten
Ich selbst lebte in Tarlabaşı in der kleinen Eigentumswohnung einer Freundin. Aus dem Schlafzimmerfenster hatte ich den Blick auf ein Erasmus-Haus, gleichzeitig konnte ich abends den Drogenhandel auf der Straße beobachten. Der Lärm der Baustelle einen Block weiter war bis in die Nacht zu hören. Ich sprach mit meiner Freundin über ihren Eindruck vom Viertel und ob sie das Gefühl hätte, dass eine Gentrifizierung stattfinde. Sie berichtete mir jedoch von ebendieser Kriminalität vor ihrer Haustür und weniger von dem Gefühl einer Veränderung des gesellschaftlichen Milieus. Selbstverständlich besteht Tarlabaşı nicht nur aus der Diskussion über Drogenhandel und einer mit dem Zuzug von Erasmus-Student*innen verbundenen Gentrifizierung. Dennoch verdeutlicht die Diskussion darüber den utopischen Wandel, den das Tarlabaşı-Projekt widerspiegelt. War Tarlabaşı vor Jahren noch ein Viertel, das sich einige Menschen nicht trauten, zu betreten, so soll es in Zukunft der neue Hotspot für wohlhabende Familien und erfolgreiche Geschäftsleute sein.
Gelebte Vielfalt
Über all diesen Entwicklungen steht die Frage nach einer sozial gerechten Urbanisierung und Veränderung von Städten. Während in Neukölln die Gentrifizierung als ein Prozess der Aufwertung des Viertels durch den vermehrten Zuzug von Künstler*innen, Student*innen und einem internationalen Publikum gesehen werden kann, so ist das Tarlabaşı-Projekt ein staatlich initiiertes Stadtentwicklungsprojekt, wonach ein völlig neuer Wohn- und Lebensraum entstehen soll. In beiden Fällen bringt die Veränderung vor allem eines mit sich: Die Verdrängung von alteingesessenen Bewohnern und dem alten Charakter des Viertels. Kieze, ob in Istanbul oder Berlin, wandeln sich zwangsläufig. Es bleibt die Frage, welchen Wandel die Bürger*innen der Städte vertreten möchten und welchen sie letztendlich mitgestalten können. Vergleiche wie der zwischen Neukölln und Tarlabaşı machen deutlich: Städte können nur dann lebenswert und lebendig sein, wenn sie vielfältig sind und bleiben.
Bis 11. November 2016 ist in der ARD-Mediathek eine Folge von “Mordkommission Istanbul” zu sehen, die einen Kriminalfall vor dem Hintergrund des Bauprojekts in Tarlabaşı thematisiert.
Text: Jannik Behme
Bilder: Maximiliane Wittek
Redaktion: Jonas Wronna