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Wie es sich anfühlt, nach einem Erasmus-Semester in Istanbul heimzukommen

Bevor ihr euch nach eurem Erasmusaufenthalt in der Türkei in den Flieger zurück nach Deutschland setzt, solltet ihr eines wissen: Keiner bereitet euch darauf vor, wie tief das Loch ist, in das ihr nach eurer Rückkehr hineinfallt. Dass dieses Loch „reverser Kulturschock“ genannt wird, wissen auch die Wenigsten. Meine Mutter lachte mich zum Beispiel aus, als ich ihr versuchte, mit diesem Begriff zu erklären, warum ich seit meiner Rückkehr die meiste Zeit in meinem Bett verbrachte. Das Gefühl danach ist für mich jedoch viel komplexer und facettenreicher als die schwarze, lineare „W-Kurve“, die den Wikipedia-Artikel zum „reversen Kulturschock“ illustriert. Deswegen möchte ich nun nach der Rückkehr aus Istanbul eine kleine Gefühlsinventur wagen.

Das Gefühl danach ist Verwunderung. Verwunderung über so viele kleine Sachen, die einem vorher nie aufgefallen sind und jetzt umso schärfer ins Auge stechen. Dass ich jetzt beispielsweise wieder aufpassen muss, weil mich ja jeder versteht, wenn ich Deutsch spreche. Dass ich wieder Müll trennen und Pfandflaschen sammeln muss. Oder dass es im Supermarkt ein ganzes Regal für vegane Produkte gibt, deren Inhaltsstoffe ich plötzlich wieder lesen und verstehen kann.

Das Gefühl danach ist Einsamkeit. Es ist das Gefühl, von Personen umringt zu sein und sich trotzdem ganz alleine zu fühlen. Weil die Leben der Familie und Freund*innen auch weitergegangen sind, während man weg war und nach spätestens ein paar Wochen alle nur noch mit halbem Ohr zuhören, wenn man mal wieder eine Anekdote über Istanbul auspackt. Es ist das Klammern an die neu gewonnen Freund*innen in Istanbul, die glücklicherweise immer wieder gerne gemeinsam in Erinnerungen schwelgen.

Das Gefühl danach ist Stolz. Stolz, der aufkommt, wenn man darüber nachdenkt, welche Herausforderungen man in seiner Zeit in einem fremden Land alle gemeistert hat. Auf Türkisch zu telefonieren, in den richtigen Bus einzusteigen oder einfach es ausgehalten zu haben, immer wieder den „Yabanci-Stempel“ aufgedrückt zu bekommen. Ein Gefühl von Stolz darüber, das Fremdheitsgefühl erfolgreich in Lebenserfahrung übersetzt zu haben.

Das Gefühl danach ist Überforderung. Überforderung damit, dass Menschen von einem Einschätzungen und Zusammenfassungen verlangen, wo sich noch nicht einmal Worte formiert haben, um das Erfahrene zu beschreiben. Aber auch Überforderung damit, wieder in einer Gesellschaft angekommen zu sein, in der man funktionieren muss und Verpflichtungen hat und wo der „Ausländerbonus“ nicht mehr gilt.

Das Gefühl danach ist Anerkennung. Anerkennung gegenüber denjenigen Menschen in Deutschland, die als Zugewanderte oder Migrant*innen der zweiten oder dritten Generation tagtäglich mit Vorurteilen und Missgunst begegnet werden. Anerkennung darüber, wie schwierig es ist, eine fremde Sprache zu lernen und sich in einer fremden Kultur zurechtzufinden. Und Anerkennung dafür, dass diese Menschen einem oftmals trotz aller eigenen Schwierigkeiten mit solcher Offenheit und Freude begegnen.

Das Gefühl danach ist Frust. Frust, der sich ganz schnell entwickelte, als ich mit Menschen in meiner Umgebung ins Gespräch kam, die nicht in der gleichen Weise über den Tellerrand geschaut hatten wie ich. Die mir pauschalisierte Aussagen an den Kopf warfen und mir das Gefühl gaben, ich sei entweder die neue Türkeikorrespondentin oder ich könne ihr Weltbild nicht verändern, egal, was ich sagte. Bei jeder Familienfeier werde ich nun zu meiner Meinung über verschiedene Debatten über den Islam, Geflüchtete oder die aktuelle Türkeipolitik ausgefragt. Wenn ich dann antworte, dass es mir mittlerweile sehr schwer fällt, generelle Aussagen zu treffen, weil ich so viele verschiedene Menschen mit diversen persönlichen Geschichten kennenlernen durfte, kommt nur eine enttäuschte und verärgerte Reaktion, dass ich mich ja so verändert hätte und nicht wieder zu erkennen sei. Es fällt mir schwer, aus diesem Gefühl von Frust keinen Trotz werden zu lassen und mich trotzdem mit einer offenen Haltung in solche Gespräche zu begeben.

Das Gefühl danach ist Gelassenheit. Eine Gelassenheit, die Istanbul einfach von einem abverlangt, weil man sonst untergeht. Nach Deutschland habe ich diese Gelassenheit mitgenommen. Sie zeigte sich, als ich einen Arzttermin dreimal neu ausmachen musste, weil ich jedes Mal eine Viertelstunde zu spät kam und die Sprechstundenhilfe mich ganz empört nicht mehr drannehmen wollte. Ich schmunzelte nur und ließ mir halt einen neuen Termin geben. Die Gelassenheit in Situationen, die außerhalb meiner Kontrolle liegen, ist befreiend. Hinzu kommt eine Gelassenheit bei Situationen und Ereignissen, die mich vor meinem Auslandsaufenthalt viel mehr getroffen hätten. Viele Probleme in Deutschland empfinde ich nun als Luxus, nachdem ich in der Türkei Terroranschläge, einen Putschversuch und so viel Armut hautnah erlebt habe.

Das Gefühl danach ist Unverständnis. Unverständnis darüber, wie so viele Menschen tagtäglich in ihrer Blase leben, ohne diese zu hinterfragen. Unverständnis darüber, dass genau diese Menschen dennoch meinen, mir die Welt erklären zu können. Aber vor allem Unverständnis darüber, dass immer noch so viel Hass und Intoleranz herrscht, wo wir doch alle gerade jetzt Offenheit, Akzeptanz und Nächstenliebe brauchen.

Das Gefühl danach ist Sinnhaftigkeit und Willensstärke. Es ist das Gefühl, all die wunderschönen, aber auch lehrreichen Erfahrungen in sinnvolle Aufgaben verwandeln zu wollen. Ich selbst konnte die Hilflosigkeit, die ich gegenüber den unzähligen geflüchteten syrischen Familien empfand, in Deutschland endlich umlenken, indem ich mich in einer Erstaufnahmeeinrichtung für Geflüchtete engagierte. Dort halfen mir nicht nur meine neugewonnenen Sprachkenntnisse, sondern auch die Einblicke, die ich in einem muslimischen Land erhalten hatte. Es ist das Gefühl, plötzlich ein Puzzlebild der Welt zu sehen, dass so viel größer ist als man selbst und doch umso mehr sein eigenes Puzzlestück dazu stiften zu wollen.

Das Gefühl danach ist Scham. Scham darüber, dass man, wenn man ehrlich mit sich selbst ist, auch eine Erleichterung verspürt, wieder zuhause zu sein. Scham, dass man aufgrund eines kleinen roten Heftchens aus Papier einfach so alle Sorgen hinter sich lassen kann, wann immer man das möchte. Scham, dass man dabei die Menschen zurücklässt, die der aktuellen politischen Lage nicht so einfach entkommen können. Und Scham, dass das Leben in Deutschland einfach so weitergeht.

Das Gefühl danach ist Dankbarkeit. Dankbarkeit, diese Möglichkeit zu haben. Aber eine viel größere Dankbarkeit gegenüber all den Menschen, die einen in ihr Zuhause eingeladen haben, die einem bei Alltagsproblemen zur Seite standen und die einem eine atemberaubende und vielseitige Türkei gezeigt haben. Demnach auch Dankbarkeit, weil man weiß, dass genau diese Menschen auf ein freudiges Wiedersehen warten.

Das Gefühl danach ist Nostalgie. Nostalgie gegenüber Orten, Menschen, Gerüchen, Gesten und Geräuschen. Eine Nostalgie, die mich immer grinsend aufhorchen lässt, wenn ich in Deutschland an jemandem vorbeilaufe, der oder die Türkisch spricht. Nostalgie, die mich ständig in türkische Supermärkte laufen lässt, sodass ich meinen Kühlschrank mit allen Köstlichkeiten füllen kann. Aber auch Nostalgie, durch die es mir schwer fällt, mir einzugestehen, dass selbst ich die politischen Entwicklungen zurzeit sehr erschreckend finde.

Wenn man all diese Gefühle durchlebt hat, ist das Gefühl danach Akzeptanz. Akzeptanz, dass sich die Menschen in meiner Umgebung in meiner Abwesenheit verändert haben, genauso wie ich mich entwickelt habe und gewachsen bin. Akzeptanz, dass sowohl die Türkei als auch Deutschland ihre Sonnenseiten haben. Akzeptanz, dass diese Vielfalt an Gefühlen, die ich gerade durchlebe, mir auch etwas beibringen.

Und schließlich ist das Gefühl danach, dass Istanbul immer einen Platz in meinem Herzen haben wird.

Text: Judith Blumberg
Foto: Maximiliane Wittek

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