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Auf der Suche nach einem Heimatbegriff

Was macht eigentlich die Heimat aus? Ist es der Ort, an dem man geboren ist? Ist es die Kultur, die man lebt? Sind es die Menschen, mit denen man zusammen ist? Im Workshop “Common Grounds” der Kunst- und Kulturorganisation Katadrom in Zusammenarbeit mit Erasmus+ und ASF stellten sich acht junge Menschen aus Deutschland mit türkischen Wurzeln und acht junge Menschen aus Istanbul dieser Frage.

Zehn Tage lang reisten sie zusammen durch die Türkei und besuchten die Städte Istanbul, Mersin, Mardin und Malatya.  Entstanden ist ein 20-minütiger Dokumentarfilm, der am Ende dieses Artikels zu finden ist und viele Erinnerungen und Erlebnisse, die die Teilnehmer auch nachhaltig beeindruckten.

Für viele der Teilnehmer aus Deutschland war es die erste Reise in die Türkei, die sie nicht zu Verwandten-Besuchen oder an Urlaubsorte brachte. Filiz aus Hamburg sagt, sie habe die Türkei durch den Workshop auf eine Weise entdeckt, die für sie bis dahin nicht möglich war und konnte deshalb eine andere Sichtweise auf das Land ihres Vaters entwickeln: “Nun ist die Türkei für mich nicht mehr nur Strand und Istanbul, sondern auch Schnee in Malatya oder Orangen in Mersin.” Doch sie hat auch verstanden, dass die Türkei so vielfältig ist, dass jeder sein eigenes Bild dieses Landes hätte. Ihrem hat sie nun noch etwas Farbe hinzugefügt.

Melissa, Studentin der politischen Kommunikation aus Berlin hat sich auf dieser Reise vor allem mit ihrem “Türkischen Ich” auseinander gesetzt. Das war ein Teil ihrer Selbst, den sie früher ablehnte.  “In meiner frühen Jugend hatte ich für mich beschlossen, möglichst Deutsch zu sein.” Sie hörte auf türkisch zu sprechen und fand Gründe in den Sommerferien nicht mit in die Türkei zu fliegen. Heute kommt ihr das absurd vor. Durch diese Reise lernte sie die Türkei auf eine andere Art kennen und fand auch wieder zur türkischen Sprache zurück. “Letztlich habe ich in den 10 Tagen in der Türkei mehr türkisch gesprochen, als in den 10 Jahren zuvor. Der Anreiz war auch riesig!” Denn zum ersten Mal lernte sie Türken kennen, mit denen sie sich identifizieren konnte. Nicht die Verwandten, Großvater und Großmutter, sondern junge Menschen, so wie sie, mit denen sie Gefühle, ähnliche Erlebnisse und Geschichten aus der Jugend teilen konnte.

Auch Neslihan, Pädagogin aus Düsseldorf, erzählt davon, wie sie durch den Austausch mit den Leuten aus Istanbul profitierte. “Sie brachten uns Ausdrücke in der türkischen Jugendsprache bei, die wir hier in Deutschland gar nicht kennen.” Doch sie sagt auch, dass es ein Austausch war, bei dem beide Seiten Neues hinzulernten und neue Perspektiven kennen lernen konnten. Insbesondere das gemeinsame Reisen war dabei ein wichtiger Faktor: “Im Türkischen gibt es dieses Sprichwort: Çok okuyan değil, çok gezen bilir. Übersetzt heißt es etwa: nicht derjenige, der viel liest hat viel Wissen, sondern derjenige, der viel reist.” Dem Satz fügt sie hinzu, dass eine Reise in Begleitung mit anderen Menschen noch viel lehrreicher sei. Durch den Austausch über die unterschiedlichen Blickwinkel auf das Wahrgenommene lerne man nicht nur miteinander, sondern auch voneinander.

Canberk, Filmfestivalorganisator aus Istanbul, sagt, er habe vor allem gelernt, wie viele Gemeinsamkeiten die jungen Menschen aus Deutschland mit der Gruppe aus Istanbul finden konnten. “Das hat sich während der zehn Tage entwickelt. Am Anfang überwogen vielleicht die Unterschiede und der kulturelle Abstand voneinander. Doch je länger wir zusammen waren und auch zusammen reisten, desto mehr lernten wir einander kennen und verstanden, dass es egal war unter welchen Umständen wir groß geworden waren. Gerade durch die gemeinsamen Aktivitäten und dadurch, dass wir gemeinsam neue Orte entdeckten, traten unsere Geschichten in den Hintergrund und das, was wir teilten wurde wichtig.”

Auch Erol, Schauspieler aus Berlin, betont besonders den Aspekt des Reisens, der ihm an dem Projekt gefallen hat. Doch nicht nur das Reisen selbst, sondern auch die Auswahl der Städte in welche die Reise ging: “Malatya, Mersin und Mardin, das sind alles Städte, die nicht unbedingt vorne im Reiseführer der Türkei stehen, und die doch so viel über die Vielfalt dieses Landes erzählen. Ihnen wohnt eine unglaubliche Geschichte inne und dadurch, dass manche der Istanbuler Teilnehmer einen engen, persönlichen Bezug zu den Städten hatten, konnten wir diese Städte nicht nur als Touristen wahrnehmen, sondern trafen auch auf die Menschen dort.” Die Gruppe wurde zum Beispiel von der Großmutter eines Teilnehmers nach Hause eingeladen. Dort gab es für alle Tee und Kekse und einen Austausch über das Leben in Malatya und die Eindrücke, die die Teilnehmer gesammelt hatten. Auch auf einer Hochzeit tanzten die jungen Leute aus Deutschland und Istanbul. Diese fand in einem Hotel in Mersin statt und spontan wurde die Gruppe eingeladen und fand sich inmitten einer kurdischen Hochzeitsfeier wieder.

Doch nicht nur das Reisen und (Wieder-)Entdecken der Türkei war Teil des Projekts, sondern auch der Blick nach innen, ein Begeben auf die Suche danach, was dieses Stück Land mit der eigenen Identität und dem Verständnis von Heimat zu tun hatte.  Psychologin Aline Haag hielt einen Workshop mit dem Titel “Identity Psychology” und auch der Dokumentarfilm fokussierte sich auf die Frage, was Heimat für die Teilnehmer bedeutete.

Für Neslihan war es das erste Mal, dass sie so explizit danach gefragt wurde. “Ich hatte vorher nie das Bedürfnis mir selbst die Frage zu stellen, wo meine Heimat ist, da ich mich in erster Linie als Weltenbürger sehe. Als mir während des Projekts im ersten Interview die Frage gestellt wurde, habe ich mir das erste Mal Gedanken darüber gemacht. Auf Anhieb habe ich “Heimat” mit Geborgenheit und diese wiederum mit meiner Familie in Verbindung gebracht. Also fühle ich mich in Deutschland zuhause, weil ich mit meiner Familie dort lebe. Wenn ich in Zukunft meine eigene Familie gründe, wird sie darüber entscheiden, wo ich mich zu Hause fühle. Das heißt, für mich ist Heimat nicht ortsgebunden, sondern personenbezogen.” Canberk hat da ein ähnliches Gefühl: “”Ich fühle mich zum Beispiel fremd in der Stadt, aus der meine Eltern kommen. Das ist nicht meine Heimat. Heimat ist dort, wo ich jetzt lebe, wo meine Community ist, wo meine Freunde sind. Die Familiengeschichte hat damit wenig zu tun.”

Durch den Workshop “Common Grounds” konnten sich die Teilnehmer der türkischen Kultur und dem Land als auch der Frage nach Heimat, Identität und Zugehörigkeit neu stellen. Mit bleibender Wirkung. Melissa zum Beispiel konnte ihre türkische Seite annehmen: “Seit der Reise spreche ich mit meinen Eltern wieder türkisch, etwas dass ich seit meiner Kindheit nicht mehr getan habe.” Und zu den anderen Teilnehmern aus der Gruppe hat sie weiterhin über Facebook Kontakt und ist somit auch am Tagesgeschehen in der Türkei viel näher dran: “Täglich bekomme ich auch in den aktuellen Meldungen mit, was junge türkische Studenten bewegt und beschäftigt.”

Neslihan fasst ihre Eindrücke und Erfahrungen, die sie durch den Workshop hinzugewonnen hat, so zusammen: “Ich habe mit diesem Projekt sowohl unvergesslich schöne Impressionen gesammelt als auch meinen Wissensschatz erweitert. Zudem konnte ich für mich nochmal reflektieren, dass ich meine persönliche Identität nicht über die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Land oder einer Kultur definiere, sondern über Eigenschaften, die mich zu einem guten Menschen machen. Dabei spielt für mich weder die ethnische/soziale Herkunft, die Religionszugehörigkeit noch der Bildungsgrad oder der Beruf eine Rolle. Was unser Menschsein ausmacht ist unsere Persönlichkeit, unser Herz und unsere Seele, die sich in den Taten und im Verhalten widerspiegeln.” Eine wunderschöne Erkenntnis über die Loslösung von Grenzen nach einer Reise der Verortung.

Deutsche Untertitel kann man in der Abspielleiste unten rechts finden.

Fotografie: Neslihan Kanbur

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