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Der Verlag binooki. Die Liebe zur türkischen Literatur und zur klischeefreien Zone

Ich erinnere mich noch an den Moment, als ich mein erstes Buch vom Verlag binooki in den Händen hielt: ‚Gezi – Eine literarische Anthologie‘. Es war Juni 2014, ein Jahr nach den Protesten, und schon da stellte sich die Frage, was von dem ‚Geist von Gezi‘ geblieben war. Das Buch gab mir tiefgreifende Einblicke. Seitdem ist viel passiert. Zwei Jahre später treffe ich nun die Verlegerin Selma Wels in ihrem Büro in Berlin-Schöneberg. Zusammen mit ihrer Schwester Inci Bürhaniye hat sie 2011 den Verlag binooki gegründet, aus Lust an türkischer Literatur – aber auch, weil die Schwestern in Deutschland in dem Bereich Nachholbedarf gesehen haben – und ihr Erfolg gibt ihnen recht.

binooki ist…

… ein Verlag, der sich mit viel Leidenschaft der Aufgabe verschrieben hat, türkische Literatur im deutschsprachigen Raum zugänglich zu machen und türkischen Autor*innen auch in Deutschland, Österreich und der Schweiz eine Stimme zu geben, und das ganz ohne Klischees zu bedienen. „Wir wollen die türkische Kultur mithilfe der türkischen Literatur verständlicher machen“, so ist die Devise von Selma und İnci. Romane, Krimis, Erzählungen, Fantasy, Lyrik und moderne Klassiker – Es werden Bücher verlegt, die über Grenzen hinweg funktionieren, gerade auch weil die beiden Schwestern besonderen Wert darauf legen mit jungen türkischen Autor*innen zusammenzuarbeiten. „Um einfach zu zeigen, das ist die Türkei jetzt. Das ist das, was die Literaten jetzt dort schreiben, was sie fühlen, wie sie denken, wie sie leben und das unterscheidet sich eigentlich gar nicht so sehr von dem wie wir hier denken, hier fühlen und hier leben“, erzählt Selma. Die beiden Verlegerinnen haben selbst türkische Wurzeln und wollen neben der ewigen Orient-Okzident Debatte den Blick auf das Wesentliche lenken: „Der Mensch ist halt ein Mensch, egal wo.“
Als Verlegerin tätig zu sein, ist für Selma Wels auch ein politischer Job und bedeutet Verantwortung zu übernehmen, an die Autor*innen zu denken, für Transparenz zu sorgen, kurzum: die eigene Arbeit als gesellschaftliche Verantwortung begreifen. Gerade auch weil im Verlag einige junge türkische Autor*innen publizieren, die sich regierungskritisch äußern. So beispielsweise Emrah Serbes, der Autor der Behzat Ç. Romane, mit dem binooki letztes Jahr eine große Tour durch die Literaturhäuser unternommen hat und der in der Türkei schon einige Male wegen ‘Majestätsbeleidigung’ vor Gericht stand. Die Autor*innen nehmen die Arbeit der Verlegerinnen sehr positiv wahr. Sie bekommen eine Stimme auf dem deutschsprachigen Markt. Außerdem verstünden es viele auch als eine Tür, in andere Sprachen übersetzt zu werden.
Der Job bedeutet für die Schwestern auch viel arbeiten. „Man ist viel unterwegs, wir haben viele Veranstaltungen. Das ist total schön. Das macht sehr viel Spaß. Letztes Jahr war es vielleicht ein bisschen zu viel. Da hab ich mal ausgerechnet, dass ich circa 12.000 km nur in Deutschland und der Schweiz rumgefahren bin“, erzählt Selma.

Aber die Mühe lohnt sich. Jüngst hat es die deutsche Erstübersetzung des Kultromans ‚Die Haltlosen‘ (‚Tutunamayanlar‘) von Oğuz Atay, der 40 Jahre lang als unübersetzbar galt, in die Top Ten der Hotlist (eine Nominierung der besten Bücher aus unabhängigen Verlagen) und auf Platz zwei der LitProm-Bestenliste geschafft. Selma Wels hofft darauf, dass der Roman auch als Gewinner der Hotlist rausgeht. “Das wäre für die türkische Literatur und auch für Oğuz Atay, – er hätte es wirklich verdient -, ein ganz großes Zeichen.“

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Der Ursprung von binooki ist…

… die Folge aus dem persönlichen Bedürfnis der beiden Schwestern nach türkischer Literatur in deutscher Sprache, die nicht nur den Literatur-Nobelpreisträger zeigt, sondern der Diversität der türkischen Literatur gerecht wird. „Es gibt eine sehr große Gruppe türkischer Einwander und die darauffolgenden Generationen. Warum kann sich anderssprachige Literatur in Deutschland etablieren, aber türkische nicht?“, so die Ausgangsfrage von Selma und İnci. Die Schwestern nahmen 2011 ihr Glück selbst in die Hand und bereits nach einem halben Jahr Verlagsgeschichte gewannen sie die ersten Preise, unter anderem als ‚Newcomer des Jahres‘. ,binooki’ kommt übrigens vom Wort ‚Binokel‘ und wurde um ein ‚o‘ erweitert, um das Wort ‚book‘ im Verlagsnamen zu haben. Mittlerweile gibt es 30 Titel im Programm. Das nächste Werk erscheint im Oktober: ‚Wie mein Vater Sozialist wurde und ich mich verliebte‘ von Mustafa Kutlu.

Veranstaltungen und Aktivitäten von binooki…

…„gibt es viele verschiedene, aber meistens natürlich Lesungen“, beantwortet Selma meine Frage. Diese Woche ist binooki-Woche im ‚Fräulein Schneefeld&Herr Hund‘, einer Berliner Buch- und Schokoladenhandlung. Am 06. Oktober ist Gerrit Wustmann, der Autor von ‚Beyoğlu Blues‘, ‚Istanbul Bootleg‘ und ‚Taksim Tango‘, in Bielefeld bei ‚Lyrik trifft Jazz‘ anzutreffen und die Zuschauer*innen können herausfinden, wie seine Lyrik und Prosa mit den jazzigen Beats der Band Rahat zusammen funktioniert.

Besondere Momente…

… gab es viele für Selma Wels, denn ihr Beruf macht ihr Spaß. Wer mit so viel Herzblut seinen Job macht, der wird auch belohnt, nicht nur mit Preisen, sondern vor allem mit persönlichen Höhepunkten. „Das vermischt sich, wenn man selbstständig ist“, sagt Selma Wels. Einer der Momente, die sie wahrscheinlich nie vergessen wird, war, als sie das erste Buch binookis ‚Warten auf die Angst‘ von Oğuz Atay, als Druck-PDF an die Druckerei schickte. „Also ich saß bestimmt 20 Minuten vor diesem Bildschirm und hab echt eine ganze Weile gebraucht um auf Senden zu drücken.“ Aber auch auf den Veranstaltungen gibt es besondere Momente, nämlich genau dann, wenn die Verlegerinnen merken, dass es funktioniert, dass sie eine Brücke schlagen konnten zwischen der Türkei und Deutschland. „Es ist eben tatsächlich so: Du hast das Interesse des Publikums an dem Menschen, der da vorne sitzt und liest, das immens groß ist. Und du hast total interessante Gespräche, Altersdurchschnitt einmal quer durch die Gesellschaft, und das ist wahnsinnig spannend“, erzählt Selma. Wenn Menschen auf sie zukommen und sich für ihre Arbeit bedanken, dann weiß sie, dass das Beste ist, weiterzumachen. „In der Hoffnung auf eine klischeefreie Zone und eine Zukunft, in der wir unsere Kinder glücklich aufwachsen sehen werden.“

Informationen über binooki findet ihr hier.

Für weitere Organisationen, Vereine und Plattformen, die sich mit dem deutschsprachig-türkischen Austausch beschäftigen, schaut euch unsere MAVI-Map an und klickt euch durch die Marker.

 

Text: Aylin Michel
Titelbild: Stephan Pramme
Fotos: Yasemin Akkoyun
Redaktion: Marie Lemser
Online-Map: Mert Barış

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