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Diese Welt – Ich kenne sie nicht.

Eine Besprechung von „Vier Beine eines Stuhls“ – eine virtuelle Ausstellung von Kübra Sariyar.

In der multimedialen Ausstellung “Vier Beine eines Stuhls” macht Kübra Sariyar die Lebenserfahrungen sieben türkisch-deutscher Frauen im Industrie-Dreieck Obernburg, Elsenfeld und Erlenbach, südöstlich von Frankfurt am Main sichtbar. Kübra schafft durch Gespräche und Momentaufnahmen eine Nähe und Wärme zu den Frauen, deren persönliche Einwanderungsgeschichten weder als generelle, noch als feministische Testimonials zu lesen bzw. hören sind. Über Mütter, den Zugang zu exklusiven Räumen, Generationsfragen und die bewusste Wahl der Coverversion von “Gurbet” für den Trailer des Projekts.

Kübra in Berlin (Fotos: Marie Konrad)

Das Projekt fing mit einem grundlegenden Interesse an: Mama, wann kamst du eigentlich hierher und warum eigentlich und was machst du hier und bist du überhaupt zufrieden damit?

Wie kam das Projekt „Vier Beine ein Stuhl“ zustande? Was ist dein persönlicher Bezug zum Thema?

Meine Mutter ist groß geworden in einer Kleinstadt am Schwarzen Meer und kam dann nach Elsenfeld zu einer Familie, die ländlicher groß geworden ist und somit wenig Zugang zu Bildung hatte. So lag der kulturelle Fokus auf der Weiterführung der traditionellen Strukturen der Familie, also dass zum Beispiel der Sohn als einziger eine weiterführende Bildung annehmen durfte, sollte, musste und die Mädchen zu Hause bleiben und helfen sollten. Mein Opa kam damals erst nach Aachen, dann nach Elsenfeld. Für meine Mutter war das ein kultureller Crash. Und genau das fand ich so spannend.

Kübra & Sehel (aus Vier Beine eines Stuhls – Kübra Sariyar)

Das Industrie Center Obernburg ist ein eigener Charakter in deinem Projekt. Es verbindet die Geschichten der Frauen. Was wird dort hergestellt?

Im Industriecenter Obernburg werden noch heute Chemiefasern hergestellt. Es gibt etliche Männer mit türkischer Migrationsgeschichte, die dort arbeiten. Da hat auch mein Opa angefangen zu arbeiten und da arbeitet heute mein Bruder.

Es ist ein riesen Industriegelände zwischen Elsenfeld, Obernburg und Erlenbach. In diesen Gemeinden sind sehr viele türkische Menschen angesiedelt. In Erlenbach ist zum Beispiel der Anteil türkischer Anwohner:innen höher als deutscher. Das macht auch was mit der Infrastruktur.

Titelbild (aus Vier Beine eines Stuhls – Kübra Sariyar)
Sueda (aus Vier Beine eines Stuhls – Kübra Sariyar)

Du schreibst in der Projektbeschreibung, dass es auf keinen Fall ein feministisches Projekt ist. Wieso machst du das so deutlich?

Viele aus meinem Bekanntenkreis nahmen an, es sei ein höchst feministisches Projekt, weil ich türkisch-deutsche Frauen interviewe und nicht Männer. Dabei ist das einfach mein direktester Zugang.

Natürlich hat es auch was mit der türkischen Kultur zu tun. In meiner Bachelorarbeit habe ich meinen Fokus komplett auf die sozialen Lebensräume von türkischen Männern in Deutschland gelegt: Es geht darin um eine postmigrantische Leseweise türkischer Kaffeehäuser (Kahvehane). Ich bin in türkischen Gänsefüßchen aufgewachsen, aber ich habe keine Ahnung, was in diesen Kaffeehäusern abgeht. Ich kenne sie nicht von innen, sondern nur Geschichten, die hin und wieder mal am Esstisch erzählt wurden. Das war ein exklusiver Raum für Männer, da durften wir nicht rein, da sollten wir nicht rein. Das wollte mein Papa auch nicht, der selbst lange Zeit ein Kahvehane-Besitzer war. Meine Mama, meine jüngere Schwester und ich haben meinen Vater zur Mittagszeit manchmal vor dem Café besucht, aber wir gingen nie hinein. Und so entstand bei mir natürlich eine Neugier für diesen unzugänglichen Raum, den ich dann mehr oder weniger wissenschaftlich angegangen bin. Weil ich es als Kind nie durfte, hatte ich auch so ein wissenschaftliches Interesse daran, diesen Raum zu erkunden.

In meiner Bachelorarbeit habe ich versucht, diese Räume durch Fotografien zu lesen; Fotografien gemacht von Fotografinnen, also mit einem weiblichen Blick. Vier Beine eines Stuhls ist quasi eine Antwort auf diese Bachelorarbeit.

Kübra in Berlin (Fotos: Marie Konrad)

Was waren, abgesehen von der Einwanderung an sich und dem Industriecenter Obernburg gemeinsame Themen in den Interviews?

Die Sprache war ein zentrales Thema bei allen. Wie schwierig es war, in einem gewissen Alter eine komplett andere Sprache zu lernen. Eine Sprache, die von Grund auf anders ist. Ein weiterer Schwerpunkt war der Zugang. Als Feride kam, gab es kaum türkische Lebensräume. Später wurde es einfacher für die Frauen. Und mit den Kindern vereinfachte sich auch der Zugang zu deutschen Sprachräumen.

Neben der Sprache als gemeinsames Thema fokussierten sie sich in Teilen besonders auf Schulzeit, Diskriminierung am Arbeitsplatz, Jobsuche und Familie.

Ich wollte keine allgemeinen Antworten. Ich wollte, dass sie ihre Geschichten erzählen.

Ich habe meine Stimme nicht in die Audiospuren mit eingebaut. Ich habe als Sprachrohr operiert. Wir hatten einfach ein persönliches Gespräch, was ich auch an einem üblichen Samstagsbrunch führen würden. Dabei war es mir wichtig, ihre Privatsphäre zu respektieren und nicht investigativ vorzugehen. Diese sieben Frauen stehen dabei keineswegs repräsentativ für alle weiblich gelesenen Personen, die im Zuge der Gastarbeit aus der Türkei nach Deutschland kamen.

Warum liegt der Fokus nur auf der einen Generation? Warum wurden die Töchter nicht interviewt?

Die Themen dieser Generation sind andere. Das würde eine ganz andere Ebene öffnen.

In den Gesprächen gab es auch generationsübergreifende Themen wie die Erziehung der Kinder und auch der Wunsch zurückzukehren oder hier zu bleiben. Die Frauen der ersten Generation im Projekt haben diese Frage für sich eigentlich schon geklärt, die zweite Generation weiß es noch nicht so genau, ob hierbleiben oder zurückkehren. Sie sind in jüngeren Jahren nach Deutschland gekommen oder haben Kinder in Deutschland auf die Welt gebracht. Und diese zweite Generation kann beobachten, wie hier von Anfang an Wurzeln geschlagen werden und nicht erst im Laufe des Lebens. Ich wollte das Generationenthema visuell einbauen und darauf hinweisen, dass das, was die Mütter und Großmütter der Dargestellten erlebt haben, auch noch in die jetzigen Lebensrealitäten subtil mitschwingt. Es ist dieses subtile Weitergeben. 

Wichtig ist das Verhältnis Mutter zu Tochter. Ich beschäftige mich mit dem Thema, weil meine Mutter ist, wer sie ist und weil sie meine Mutter ist.

Ayten (aus Vier Beine eines Stuhls – Kübra Sariyer)
Ayten & Firuze (aus Vier Beine eines Stuhls – Kübra Sariyer)

In den Momentaufnahmen ist das Industriecenter im Hintergrund zu sehen, aber vor allem auch viel Natur. Durch die golden Hour entsteht eine gewisse Wärme, welche zusammen mit der Natur als organisch und feminin gelesen werden kann – im Gegensatz zur Technik und Industrie. Der Wind in den Haaren symbolisiert Bewegung und Flüchtigkeit, aber der Stuhl verwurzelt die Frauen, schafft eine gewisse Standfestigkeit. Das waren meine Assoziationen, aber was sind deine Gedanken zu deinen Bildern?

Wir stehen auf einem Hügel und blicken auf das Industriecenter im Hintergrund. Ganz konkret nicht aus den Räumlichkeiten heraus, sondern von oben, von der Ferne. Die Frauen haben dort ja nicht gearbeitet, es waren ihre Ehemänner. Das ist unser Blick darauf. Wir sind Mütter (ich sage schon wir, ich meine sie); sie sind noch mit anderen Fragen konfrontiert, als die Männer, die dort arbeiten und nach dem Ende der Schicht nach Hause kommen. Gleichzeitig ist es auch der Flair von Obernburg, einer schönen Gegend am Main. Sie kamen mit einem anderen kulturellen Background nach Obernburg und auch in eine andere Geografie. Sie kamen aus unterschiedlichen Regionen der Türkei und nahmen jeweilige Gebräuche mit in eine andere Gegend.

Könntest du diese Geschichten erzählen ohne diesen persönlichen Bezug? Sollte man eine Geschichte erzählen, von der man nicht selbst ein Teil von ist?

Das ist eine Perspektivenfrage, die auch transparenter wird. Wer erzählt welche Geschichte? Da finde ich es sehr anerkennend, zu sagen, ich kann diese Geschichten nicht erzählen. Das ist schon einmal ein Schritt nach vorne. Gleichzeitig hat das auch Potenzial. Inwiefern kann ich mich dieser Geschichte anderwärtig annähern? Der Versuch muss ja nicht direkt komplett ausgeschlossen werden. Die Frage ist, welche Rolle der, die Autor:in annimmt.

Bei Vier Beine eines Stuhls habe ich die Beobachterinneninstanz eingenommen
wie früher, wie damals. Die kleine Kübra mit Brille und großem Interesse sitzt am Esstisch und
hört den erwachsenen Frauen zu, wie sie über bestimmte Themen, die sie beschäftigen, reden.

Im Trailer verwendest du eine Coverversion von „Gurbet“, einem sehr bekannten türkischen Liedes von Özdemir Erdoğan, welches in vielen Filmen verwendet wurde. Gurbet heißt so viel wie Heimweh und handelt von türkischen Gastarbeitern in Westdeutschland in den 60ern und 70ern. Es gibt also einen thematischen Bezug zu deinem Projekt, aber warum hast du dich für diese Cover-Version entschieden?

Derya Yildirim (& Group Simsek) steht für mich für die jetzige Generation. Sie spielt Bağlama und singt türkische Folklore mit funky Elementen. Es ist also eine postmigrantische Interpretation eines folkloristischen Lieds und somit das politischste Element des Projekts. Es ist das einzige kritische Statement in diesem sonst rein künstlerisch-dokumentarischen Projekt und auch der einzige offensichtliche Eingriff von mir, von meiner Generation. 

Was sollen die Besucher:innen der virtuellen Ausstellung mitnehmen?

Mir ist bei meinen Projekten grundsätzlich und auch hier wichtig, dass es danach nicht viele Fragen gibt. Ich möchte mit dem Projekt Fragen beantworten.

Es war mir wichtig, die Geschichten der Frauen aufzunehmen und dass diese gehört oder gelesen werden. Es gibt diese Frauen, es gibt diese Lebensrealitäten.  Und mir war auch wichtig, zu zeigen: Wo und wie sind die Gemeinden um das Industriecenter Obernburg? Das ist die Realität sehr sehr vieler Menschen. Ungefähr 25 Prozent der deutschen Bevölkerung sind Menschen mit einer Migrationsgeschichte oder –erfahrung. Und diese 25 Prozent scheinen vielleicht ein geringer Anteil zu sein, aber trotzdem sind sie real. Und mit dieser Realität bin ich aufgewachsen.

Ayse (aus Vier Beine eines Stuhls – Kübra Sariyar)

Kübra öffnet die virtuelle Ausstellung für uns, euch, dich für zwei Wochen. Wenn du es bis dahin nicht schaffst, schreib ihr gerne eine Nachricht über den Instagram-Account des Projekts:

Kübra Sariyar ist 24 Jahre alt, lebt seit November in Berlin und arbeitet seit Anfang des Jahres bei der Schwarzkopfstiftung im Programmbereich Junge Islam Konferenz Outreach-Bereich. Dort führt sie Interviews, macht Recherchen zum Thema Diversität in der Politik. Gleichzeitig ist sie an der Uni Bayreuth im Fach Medienwissenschaft eingeschrieben, strebt aber einen Wechsel nach Berlin an. Wie das aussieht, kann sie allerdings erst im Oktober sagen.

Text & Fotos von Kübra in Berlin: Marie Konrad

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