Im Magazinprojekt “Literarische Diverse” verknüpft Herausgeberin Yasemin Altınay ihren Einsatz für mehr Repräsentation von BIPoC und LGBTIQ+ und ihre Leidenschaft für Literatur. Das Magazin für junge, vielfältige Literatur ist Plattform für literarische und künstlerische Beiträge von marginalisierten Menschen – und ein Plädoyer für Vielfalt. Wir haben mit Yasemin Altınay über kollektive und persönliche Herausforderungen, das gesellschaftspolitische Potential von Literatur und das Thema der zweiten Ausgabe “Sprache” gesprochen.
Maviblau: Wann kam dir zum ersten Mal die Idee für ein eigenes Magazin – und was hat dich dazu gebracht, den Schritt wirklich zu gehen?
Yasemin Altınay: Das Magazin ist eigentlich eine Verbindung der letzten 10 Jahren meines Lebens: erst die Ausbildung als Verlagskauffrau, Auseinandersetzungen mit gesellschaftlichen Themen und mit mir als Person, ein Masterstudium in Angewandte Literaturwissenschaft, das ich bald beende. Für mich ist das Projekt also ein Ergebnis und vor allem eine Verbindung all dieser Faktoren. Als ich letztes Jahr im Juli nach einer Diversity-Konferenz spontan einen Namen im Kopf hatte, war das der Auftakt der Idee, die ich schon länger im Kopf hatte. Einen Verlag zu gründen war schon immer mein Traum. Manchmal fehlt einfach nur der Name, damit man wirklich loslegt. Ich erinnere mich gerne an den Tag, weil mir auf einmal bewusst geworden ist, dass ich das endlich umsetzen möchte. Ich war deswegen sehr euphorisch.
Außerdem konnte ich somit die Liebe zur Literatur mit meiner bestimmten Vorstellung eines bunten Deutschlands verbinden. In einer Zeit, in der vermehrt rechtsterroristische Anschläge passieren, wollte ich nicht hoffnungslos werden und nur zuschauen, sondern aktiv sein, wie die vielen anderen Menschen, die sich einbringen und selbstlos einsetzen. Wir brauchen einfach mehr Räume für unterrepräsentierte Stimmen, wie die von BIPoC und LGBTIQ+, um die Realität Deutschlands abzubilden. Dass jetzt so viele Buchhandlungen auf das Magazin aufmerksam geworden sind und mich anschreiben, finde ich richtig toll.
Welchen Herausforderungen bist du bei der Arbeit am und der Veröffentlichung des Magazins begegnet?
Natürlich habe ich von Anfang an nicht an alle Dinge gedacht, die schiefgehen könnten. Man muss sich bewusst machen, dass nicht alles perfekt werden wird, auch wenn man das unbedingt möchte. Fehler schleichen sich einfach ein und aus ihnen lernt man am besten. Das habe ich dieses Jahr gelernt: Sich selbst den Raum zu geben, Fehler zu machen, zu lernen und zu wachsen.
Das Schwierigste an der Arbeit ist wohl tatsächlich, eine gute Work-Life-Balance zu halten. Ich arbeite noch in einem anderen Job, schreibe meine Masterarbeit und bin im Kopf dennoch meistens bei dem Magazin. Viele Aufgaben, die ich bei der ersten Ausgabe noch alleine gemeistert habe, konnte ich dieses Mal im Team abarbeiten. Das macht viel mehr Spaß! Allerdings mache ich weiterhin viele Aufgaben selbst: Social Media, Versand, Kommunikation, Vorbereitung usw. – Die Menschen sollen wissen, dass alles eben seine Zeit braucht und kein großes Team hinter Literarische Diverse steckt. Transparenz ist mir wichtig, Geduld aber genauso.
“In einer Zeit, in der vermehrt rechtsterroristische Anschläge passieren, wollte ich nicht hoffnungslos werden und nur zuschauen, sondern aktiv sein, wie die vielen anderen Menschen, die sich einbringen und selbstlos einsetzen.”
Die zweite Ausgabe hat das Überthema „Sprache“ – Warum hast du dich dafür entschieden?
Sprache begleitet uns unser Leben lang. Sie ist politisch besetzt und zeigt uns unsere Stellung in der Gesellschaft. Sie prägt unser Selbst in so einem Ausmaß, dass wir es vielleicht später erst realisieren. Ich bin einsprachig aufgewachsen, spreche weniger Türkisch, als ich es verstehe. Das macht natürlich auch etwas mit meiner Person, wenn ich denke, dass da ein Teil von mir ist, den ich nicht ganz greifen kann. «Wenn du vergeblich Verbindung suchst. Entfremdet von mir selbst. Einer Möglichkeit, als Kind, einer Person, die ich nicht geworden bin.» schreibt Andreea Zelinka in ihrem Text Unausweichlich in der aktuellen Ausgabe. So empfinde auch ich. Ich vermisse die Gespräche zu meinen Großeltern, die nie stattgefunden haben und auch nie stattfinden werden. Sprache formt unser Leben, sie lässt uns außerdem in Bücher eintauchen. So las ich Anfang des Jahres das Buch von Kübra Gümüşay: Sprache und Sein. In dieser Zeit fiel die Entscheidung auf das Thema. Und auch die dritte Ausgabe wird das Thema eines der Bücher sein, das ich in letzter Zeit gelesen habe.
Was kritisierst du am Literaturbetrieb Deutschlands – und welche Entwicklungen beobachtest du in Hinblick auf deine Kritikpunkte?
Die Literatur- und Verlagsszene ist immer noch viel zu cis-heterosexuell und weiß geprägt. Ich glaube und hoffe, das haben mittlerweile alle verstanden, sodass sich etwas bewegt. Natürlich gibt es immer mehr Verlage, die sich für BIPoC und LGBTIQ+ Stimmen einsetzen oder direkt selbst eine eigene Gründung starten. Das finde ich toll und davon sollte es viel mehr geben! Marginalisierte Menschen müssen einfach über sich selbst schreiben können und dafür braucht es mehr Räume. Ich sehe es auf jeden Fall positiv, dass so viele Menschen dieses Jahr laut geworden sind. Wichtig ist, dass der Einsatz für BIPoC und LGBTIQ+ Menschen kein Trend ist.
Die Beiträge der zweiten Ausgabe drehen sich u.a. um das Aufwachsen mit mehreren Kulturen, deutsche Deutungshoheit und auch den rassistischen Anschlag von Hanau am 19. Februar. Was für einen gesellschaftspolitischen Beitrag kann Literatur deiner Meinung nach zu Rassismusdebatten in Deutschland leisten?
Das Traurige ist ja, dass meist weniger Betroffene selbst sprechen dürfen, sondern es oft andere sind, die über sie sprechen. Dass damit Schluss sein muss, ist klar. Und genau hier knüpft Literatur und vor allem das Magazin an: Betroffene sprechen über eigene Erfahrungen. Das heißt nicht, dass sie nur über Rassismus sprechen sollen, aber wenn es ein Weg ist, damit umzugehen, dann muss ihnen dabei auch zugehört werden. Ich habe viele Nachrichten bekommen, dass sie die Texte aus der aktuellen Ausgabe sehr berührend finden. Ich hoffe hierbei natürlich auch, die Texte wirken bis in den Alltag nach und Menschen hinterfragen ihr Verhalten, sodass sie beispielsweise auf Rassismus aufmerksam machen. Ozan Zakariya Keskinkılıç hat letztens auf Twitter und Instagram gefragt, wie es jetzt weitergeht. Diese Frage habe ich aufgegriffen mit besonderem Augenmerk auf die weiße Mehrheitsgesellschaft. Ich glaube, in den Köpfen ist es einfach nicht angekommen, dass jede*r und vor allem weiße Menschen Position beziehen müssen. Wer schweigt, stimmt in meinen Augen zu und macht sich mitverantwortlich.
Dein Heft heißt im Untertitel auch „Magazin für junge Literatur“ – Warum war dir der Fokus darauf wichtig?
Mir ist es wichtig, junge Literatur zu fördern. Menschen zu fördern, die vielleicht bisher gar nicht darüber nachgedacht haben, einen Text zu veröffentlichen. Hierbei kann das Magazin als Eintritt in die Literaturszene dienen. Ich habe einige Anfragen bekommen von Literaturagent*innen, anderen Magazinen, die aufmerksam geworden sind auf die Texte und somit auf die Autor*innen dahinter. Ich finde es toll, wenn aus einer Veröffentlichung in Literarische Diverse mehr entstehen kann.
Wie ist die Resonanz auf das Magazin und was für Feedback erhältst du von Leser*innen?
Die erste Auflage von 1000 Exemplaren ist nach einem Monat ausverkauft gewesen. Das freut mich total! Die zweite Auflage erscheint am 03. September. Mich haben so viele Menschen angeschrieben, dass ihnen das Thema Sprache wichtig ist. Daher wollte ich unbedingt einen Nachdruck! Lehrer*innen bestellen das Magazin und möchten es im Unterricht mit ihren Schüler*innen behandeln. Das finde ich so unglaublich schön! Die dritte Ausgabe erscheint erst im Dezember, deswegen möchte ich die zweite Ausgabe wenigstens noch eine Weile zum Verkauf zur Verfügung haben. Leser*innen schreiben mir emotionale Nachrichten, wie sehr sie sich in den Texten wiederfinden konnten. Ein kleiner Auszug: «Zu lesen, dass es nicht nur mir so geht, tut echt verdammt gut. Zu erfahren, dass es okay ist, seine Wurzeln erst jetzt zu entdecken und ihnen mit Freude beim Gedeihen zuzusehen. Dass ich sauer auf meinen Vater sein darf, weil er mir Türkisch nie beigebracht hat, weil er immer wollte „dass du nicht gebrochen Deutsch sprichst“. Und dass es okay ist, dass er das so gedacht hat.»
Wie kann man sich als Privatperson für mehr Diversität im Literaturbetrieb einbringen?
Man kann eigene Texte schreiben und sie bei Magazinen einsenden, Verlage unterstützen, die sich für Diversität einsetzen, oder beruflich im Literaturbetrieb einsteigen: in einen vorhandenen Verlag, im Buchhandel oder in Literaturhäusern. Die Möglichkeiten sind groß und so vielfältig wie unsere Gesellschaft selbst.
Und zu guter Letzt: Was sind deine momentanen Must-Reads?
Olivia Wenzel: 1000 Serpentinen Angst, bell hooks: All About Love und Frausein von Mely Kiyak.
Klingt nach einem spannenden Projekt, an dem du gerne selbst mitwirken möchtest? Momentan läuft der Open Call für die 3. Ausgabe zum Thema Widerstand. Yasemin freut sich auf eure Beiträge!
Interview: Marlene Resch, Tuğba Yalçınkaya
Fotos: Yasemin Altınay
Übrigens: In der aktuellen Ausgabe von “Literarische Diverse” sind auch Maviblau-Teammitglieder vertreten. Ihr findet dort, neben vielen weiteren lesenswerten Beiträgen, den Text “Sprachenumwege” von Tuğba Yalçınkaya mit Illustrationen von Irem Kurt. Wir freuen uns riesig!