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Deutsch-türkische Spuren. Unsere gemeinsame Vergangenheit

İzler (Spuren) hinterlassen wir täglich, in Städten und Ländern, durch das Chaos in unseren Wohnungen, auf der Welt. Intensiver, aber leider weit weniger sichtbar, sind die Spuren, die Menschen in unseren Köpfen hinterlassen oder wir in ihren. Auf Spurensuche gehen bedeutet, sich zu erinnern, Gemeinsamkeiten entdecken, gerade auch in Zeiten, in denen das Trennende zur Selbstverständlichkeit geworden ist. In solchen Zeiten scheinen wir aktuell zu leben, auch deshalb begab ich mich auf Spurensuche … auf deutsch-türkische Spurensuche.

Am 3. Oktober dieses Jahres war ich zu Gast in einer Berliner Moschee. Es wurde nämlich nicht nur der Tag der deutschen Einheit gefeiert, sondern auch der Tag der offenen Moschee. Eine junge Frau mit Berliner Schnauze leitete die Moscheeführung und begann mit dem Satz: „Watt uns trennt dat wissen wir, lesen wir jeden Tag in der Zeitung. Sehen wir jeden Abend im Fernseher. Heute geht es mal darum, was uns verbindet!“

Was mich mit der Türkei, mit meinen türkischen Freunden verbindet, dessen war ich mir bewusst. Wie intensiv und weitreichend die gemeinsamen Spuren sind, die Menschen seit über 400 Jahren im jeweils anderen Land hinterlassen haben, dies hat selbst mich überrascht.

Da ist zum Beispiel die Geschichte der Kammertürken Ali und Hasan, die im Dienste von Königin Sophie Charlotte (1668-1705) standen und zu ihrer erweiterten Familie wurden. So besteht die Legende, dass ihr letzter Gruß auf dem Sterbebett nicht etwa Ehemann Friedrich I oder ihrem Sohn Friedrich Wilhelm galt. Überliefert sind die Worte „Adieu Ali, Adieu Hasan!“

Einer der beiden, der private Kammerdiener Ali, schaffte es sogar auf ein Gemälde von Carl Leygebe um 1710. Im Tabakskollegium, welches bis heute im Schloss Charlottenburg in Berlin hängt, ist Ali im hinteren linken Bereich durch seinen weißen Turban nach intensiver Suche zu finden. Damals kannte man im Übrigen auch schon eine Art Tabaksteuer: Rauchen war in Gegenwart des Königs Pflicht! Nur durch eine Spende konnte man sich von dieser befreien. Ali und Hasan erhielten für damalige Verhältnisse ein überdurchschnittliches Einkommen und lebten nach ihrem Dienst in schönen Villen. Manche Spuren verwischen auch nach 300 Jahren nicht und so ist die Familie Aly bis heute in Deutschland zu Hause. Ein Nachfahre des beschriebenen Kammertürken Alis ist der deutsche Politikwissenschaftler, Historiker und Journalist Götz Aly.

Achtzig Jahre später, im Jahr 1797 begannen in Berlin die diplomatischen Beziehungen zwischen der heutigen Türkei und dem heutigen Deutschland, obwohl beide Staaten damals natürlich noch nicht existierten. Es war das Jahr des Amtsantritts des ersten osmanischen Botschafters am preußischen Königshof. Leider verstarb der Dichter, Mystiker und Diplomat Ali Aziz Efendi schon ein Jahr nach Dienstbeginn. Eine Überführung zurück nach Istanbul war damals aus logistischen Gründen nicht möglich, daher musste „heiliger islamischer Boden“ in Berlin geschaffen werden. König Wilhelm III schaffte Abhilfe durch den Kauf eines Grundstückes. Dieses war der Bestattung muslimischer Menschen in Berlin vorbehalten. Auch diese Geschichte ist eine never ending story –  der Friedhof ist bis heute in Besitz einer muslimischen Gemeinde in Berlin in der Nähe des Tempelhofer Feldes.

Doch auch in der anderen Richtung bewegte sich etwas beziehungsweise jemand. 2200 Kilometer weiter wollte Helmuth von Moltke, ein preußischer Militär, eigentlich nur einige Monate Bildungsurlaub in Südosteuropa machen. Daraus wurden drei Jahre im Dienst des Sultan Mahmuds II. Er plante Festungen entlang der Donau und schrieb unter anderem das Buch „Unter dem Halbmond: Briefe aus der alten Türkei.“ Dies gilt als authentischste zeitgenössische Darstellung des Osmanischen Reiches.

Ihm folgten Mitte des 19. Jahrhunderts eine wachsende Anzahl deutscher Handwerker und Handelsvertreter. Erst nach ihnen finden sich vermehrt Diplomaten und Soldaten. Diese sehr heterogene Gruppe wird heute oftmals als Bosporusdeutsche zusammengefasst. Ausdruck dessen war vor allem die Bildung von Strukturen wie der deutschen Schule, die schon 1867 eröffnet wurde. 1907 wurde die deutsche Botschaft in Istanbul, der damaligen Hauptstadt des Osmanischen Reiches, eröffnet. Auch diese Geschichte wird bis heute weitergeschrieben, viele deutsche Familien dieser Migrationsbewegung leben bis heute in Istanbul. Sie haben bis heute einen deutschen Pass und ihre Muttersprache ist deutsch. Über die Integrationsdebatte, die wie kaum ein anderes Thema in Deutschland sehr hohe Wellen schlägt, lächeln diese Menschen nur. Ihre Heimat ist Istanbul, ihr Pass deutsch und Integration ist für viele Türkisch zu sprechen – nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Eine weitere Spur: Bis heute existiert ein schwarz-weiß Foto von ca. 300 osmanischen Schülern, die bei deutschen Handwerkern in Berlin in die Lehre gingen. Nach dieser kehrten sie zurück und gingen ihren jeweiligen Berufen nach. Um 1917 entstand die Aufnahme, die eine Art erster „deutsch-türkischer Schüleraustausch“ darstellt. Wenn auch leider nur in die eine Richtung. In der Berliner Herthastraße gab es für die Schüler ein Wohnheim, dieses Haus hat die Zeiten überdauert und steht bis heute an seinem Platz.

Zehn Jahre später entwickelte sich Berlin in den 1920 und 1930er Jahren zu dem Hotspot unter den europäischen Hauptstädten. Auch einige türkische Studierende genossen das Berliner Nachtleben, welches für sie Dank Stipendium und günstigem Wechselkurs erschwinglich war – von Maßanzügen bis Landpartien. Stellvertretend für diese sehr heterogene Gruppe steht Saadet Ikesus Altan. Sie kommt als 19-Jährige 1935 nach Deutschland und erhält am Berliner Konservatorium Unterricht in Gesang und Dramaturgie. Durch ihre beeindruckende Stimme tritt sie regelmäßig im deutschen Radio auf und wird in Deutschland berühmt. Ihre Stationen sind Opernhäuser in ganz Deutschland von Duisburg über Regensburg bis Essen. Privat kämpft sie vor allem mit den politischen Schattenseiten der Zeit. Ihre große Liebe – einen Deutschen – darf sie aufgrund eines fehlenden Ariernachweises nicht heiraten. Ihren jüdischen Vermieter versucht sie durch das Hinterlassen einer Visitenkarte an der Tür zu schützen. In der ersten Nacht bleiben sie unbehelligt. 1941 kehrt sie zurück in die Türkei – gegen ihren Willen und ohne ihre große Liebe wohlgemerkt. Dort baut sie die türkische Opernszene auf und inszeniert viele europäische Werke auf türkischen Bühnen.

Sie ist nicht die einzige, die Deutschland in diesem Zeitraum verlässt. Der Begriff haymatloz ist ein deutsches Lehnwort, welches aus dieser Zeit hervorging. 20 bis 30 Jahre vor den Gastarbeiter*innen gab es eine Migrationsbewegung in Richtung Türkei. Schätzungsweise 1000 Exilanten, meist jüdische Mitbürger*innen, Linke, allgemein Andersdenkende verlassen Nazi Deutschland Richtung Türkei. Sie folgen der Einladung des Republikgründers Mustafa Kemal Atatürk, der sich von der intellektuellen Elite Deutschlands Fortschritt für die türkischen Universitäten erhofft. Viele neue Fakultäten wurden zu dieser Zeit gegründet, sie bestehen noch heute. Das Wort Heimatlos wurde einigen dieser Menschen in Deutschland in den Pass gestempelt, welcher daraufhin ungültig wurde. Die Rückkehr in ihr Heimatland blieb ihnen dadurch lange Zeit verwehrt und das Wort haymatloz wurde Teil der türkischen Sprache und ist es bis heute.

Das den Türken und Deutschen am meisten bekannte Kapitel deutsch-türkischer Geschichte ist das der Gastarbeiter*innen. Ein fast vergessenes Kapitel dieser Geschichte ist ein ihnen gesetztes Denkmal: İşçi – der Gastarbeiter. Dieses wurde 1973 in Tophane, einem Stadtteil auf der europäischen Seite Istanbuls, eingeweiht. Es stand gegenüber der deutschen Verbindungsstelle, durch welche alle Menschen, die zum Arbeiten nach Deutschland wollten, im wahrsten Sinne des Wortes durch mussten. Die Liste der Ausschlusskriterien war lang: mehr als drei Kinder, eine Operationsnarbe usw. Für viele blieb die Reise nach Deutschland an dieser Stelle ein unvollendeter Traum. Nicht unvollendet, aber doch ein Traum sollte das Denkmal Işçi (der Arbeiter) bleiben. Schon im ersten Jahr nach seiner Errichtung wurde es teilweise zerstört. Dieses Denkmal sollte die unruhigen Zeiten deutsch-türkischer Beziehungen nicht überstehen. Viele Gastarbeiter*innen dagegen blieben in Deutschland, nicht als Gäste, sondern als Mitbürger*innen.

In der jüngeren Geschichte tauchen nun vermehrt Organisationen auf, die sich für den deutsch-türkischen Austausch einsetzen. Über hundert Jahre nach dem ersten einseitigen deutsch-türkischen Schüleraustausch entstand beispielsweise eine Initiative, die diese fast vergessene Tradition in beide Richtungen etablieren will. Die Deutsch-Türkische Jugendbrücke, gegründet 2012, hat Büros in Istanbul und Düsseldorf. Wenn man sich aber die Austauschprogramme zwischen Deutschland und der Türkei anguckt, muss man leider immer noch feststellen, dass es weitaus weniger sind, als mit anderen Ländern. Höchste Zeit also, dass eine Intensivierung des deutsch-türkischen Austauschs stattfindet, um neben dem Abbau von Vorurteilen auch hierbei wieder auf gemeinsame Spurensuche gehen zu können.

Das Jahr 2016 war geprägt von weiteren – gefühlt riesigen – Fußspuren zwischen Deutschland und der Türkei. Leider oftmals weniger in eine gemeinsame als in eine entgegengesetzte Richtung. Es ist das Jahr in dem 36 türkische Staatsbürger mit diplomatischem Pass beim BAMF in Berlin um Asyl gebeten haben – bislang. Can Dündar, der ehemalige Chefredakteur der regierungskritischen Cumhuriyet ist das bekannteste Gesicht dieser „kritischen“ Türkei. Aktuell bereichert er die Berliner Kulturlandschaft zum Beispiel durch eine Kolumne im Gorcki.


Die deutsch-türkische Geschichte wird eine Geschichte der wechselseitigen Migration bleiben, aber auch eine Geschichte der gegenseitigen Inspiration, die uns weiterhin verbindet. Die hier vorgestellten Spuren sind nur die Spitze eines kulturellen, geschichtlichen und politischen Eisbergs, in welchem viele Begegnungen unter der Oberfläche verborgen bleiben. Leider werden viele niemals den Weg in die Geschichtsbücher finden.

Daher seid ihr gefragt! MAVIBLAU möchte mit euch auf Spurensuche gehen. Schickt uns vergessene Spuren an folgende Adresse: izler@maviblau.com.  Alte Postkarten, Audios, Videos, Briefe, Geschichten, lang, kurz, melancholisch, lustig oder einfach nur schön – rund um eure deutsch-türkischen Spuren. Wir wollen versuchen eine digitale Plattform für unsere gemeinsame Geschichte zu schaffen. In Zeiten in denen das Trennende zur Selbstverständlichkeit geworden ist, suchen wir Gemeinsamkeiten!

Text: Rebecca Meier
Bilder: Fatima Spiecker

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