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Und Hoffnung schlägt mir dein Flügelschlag – “Geduldet” aufwachsen

Jeder Mensch hat sein ganz eigenes Glaubenskonzept, mit dem er sich die größeren Zusammenhänge des Lebens zu erklären versucht. Ich glaube daran, dass wir alle auf einer rational nicht erfassbaren Ebene miteinander verbunden sind. Jedes ausgesprochene Wort, jede Handlung verändert die Schwingungen unserer Atmosphäre und löst an anderer – oft verborgener – Stelle neue Handlungen aus. „Schmetterlingseffekt“ wird dieser Ansatz genannt.

Als ich mit eineinhalb Jahren als Kind politischer Flüchtlinge nach Deutschland kam, war ich natürlich zu jung, um mir Gedanken über Ursachen und Folgen gesellschaftlicher Ereignisse wie Militärputsche zu machen. Ich wusste nur, dass Soldaten in meiner Heimat Türkei das Sagen hatten und linken Aktionären wie meinem Vater „nicht wohlgesonnen“ waren. Ich bekam auch deutlich zu spüren, dass meine Eltern ihr Zuhause niemals freiwillig verlassen hätten und es schmerzlich vermissten. Menschen, die ihr Land so sehr lieben, dass sie bereit sind, unter Inkaufnahme aller Konsequenzen für ein besseres Leben zu kämpfen, sollten es nie verlassen müssen. Sie fliehen, um am Leben zu bleiben, nur um anschließend an diesem Verlust zu zerbrechen.

In meinen ersten Erinnerungen an Deutschland gibt es Notunterkünfte wie den Hinterraum eines türkischen Vereins, der nachts in einen Schlafplatz für meine Eltern und mich umfunktioniert wird, damit wir eine Bleibe haben bis der Asylantrag eingereicht wird.  Es gibt das Asylantenheim, in dem wir uns eine Wohnung mit arabischen Flüchtlingsfamilien teilen. Es gibt die Geburt meines Bruders in dem städtischen Krankenhaus, das so viel komfortabler ist als unser Zimmer im Wohnheim. Es gibt eine Parkbank, auf der meine Mutter und ich viel Zeit verbringen, ich glaube auch über Nacht, ich frage sie nicht danach. Dann gibt es viele Gesichter, von deutschen Polizisten, Beamten, Verkäuferinnen. Gesichter voller Vorwurf, Geringschätzung, Missbilligung und Gesichter von türkischen Gastarbeitern. Die deutlichste Erinnerung aber habe ich an Gefühle. Als Kind erfährst du die Welt über dein Gespür und nimmst die feinsten Schwingungen wahr. Da, wo Erwachsene nicht mehr offen miteinander kommunizieren, weißt du sofort, was unausgesprochen ist. „Ihr seid hier unerwünscht“ ist ein Satz, den ich noch heute überall sofort spüren kann. Zum Glück verbinde ich mit dieser Zeit aber auch die Erinnerung an Menschen, die uns ihr Zuhause öffnen, uns eine Zeit lang beherbergen, obwohl sie uns kaum kennen. „Solidarität“ ist auch ein Wort, das ich bereits „erfühle“, noch bevor ich es aussprechen kann.

Dann kommt in meinen Erinnerungen die Zeit des Sesshaftwerdens, die erste richtige Wohnung allein als Familie und der Kindergarten. Es gibt viel zu lernen in diesem Deutschland. Doch die schwierigste Lektion für mich ist, Kind zu sein. Um das Fremdartige an mir nicht auffallen zu lassen, lege ich mir Barbiepuppen zu, schließe mich Gesellschaftsspielen an, ohne wirklich Spaß daran zu haben. Ich will lieber träumen von einer anderen Welt. Denn so gut es uns allen in Deutschland auch geht, ich kann nie den Gedanken daran verdrängen, dass es in anderen Teilen der Welt viel Leid gibt.

In der Grundschule verläuft dann alles wie gewohnt: Wieder viel Rassismus, wieder das Gefühl des Geduldetseins. Aber diesmal trifft es auch andere Mitschüler, alles „Ausländer“, die genauso schlecht behandelt werden wie ich. Plötzlich erfahre ich eine Art Gemeinschaftsgefühl, mir wird ganz warm ums Herz. Das hält aber nicht lange an. Der Übergang zum Gymnasium trennt mich von den anderen „Ausländerkindern“. Meine Grundschullehrerin ist der Meinung, dass ich als „Asylantenmädchen“ ebenfalls nichts auf dem Gymnasium verloren habe. Sehr schnell überzeugt sie auch mich davon. Von da an werde ich meine „Minderwertigkeit“ viele Jahre nicht hinterfragen. Aber meine Mutter trichtert mir unentwegt ein: „Du wirst studieren, das ist dein einziger Ausweg aus einem Leben am sozialen Abgrund, vergiss das nie!“ Mache ich nicht. Gymnasium, Jurastudium – ich durchlaufe alle Stationen im Spurt, rase meinem inbrünstig ersehnten „Ausweg“ entgegen. Aber auch nach dem Studium bleibt das Gefühl des Angekommenseins aus. Die früh eingebläuten Glaubenssätze, dieses bessere Leben nicht zu verdienen, haben nichts an ihrer Wirkkraft verloren. Ich falle in eine Identitätskrise, ziehe nach Istanbul, weg von all den Etikettierungen und Brandmarkungen hin zu neuen.  Und mittendrin bricht in der Welt die Flüchtlingskrise aus. Plötzlich tauchen auf türkischen Straßen immer mehr augenscheinlich arabische Gesichter auf. Man nimmt es lange Zeit einfach hin. Die Türkei ist da anders als Deutschland, man gewöhnt sich hier schnell an Fremde, auch an den Anblick tausender bettelnder Kinder. Ich schaue weg. Zum ersten Mal in meinem Leben ignoriere ich ein politisches Phänomen. Ich habe Angst vor der Wucht der Erinnerung, der Identifikation, der Empathie, die da in meinem Unterbewusstsein lauern. Doch dann häufen sich Hasskommentare in medialen Diskussionsforen aus Deutschland, die Berichterstattung zur Flüchtlingswelle klingt immer absurder.  So viele Ressentiments, so viel explosive Wut hätte ich mir für ein aufgeklärtes Europa des 21. Jahrhunderts einfach nicht mehr vorstellen können. Es erschreckt mich. Dieses kleinliche Denken, diese Verweigerung der Verantwortung. Dieses post-kolonialistische Selbstverständnis, immer von der Welt nehmen zu dürfen, ohne zu viel geben zu müssen. Und dann stehe ich doch mittendrin im „Problem“. Wegschauen geht nicht mehr, ich lasse mich überrollen. Danke, ewig währendes deutsches Bedenkenträgertum, du hast mir mal wieder die Augen geöffnet!

Denn nachdem ich die Wucht der ersten Konfrontation verarbeitet habe, sehe ich wieder klarer: Meine in der jüngeren türkischen Geschichte verwurzelte Biographie hat mich gelehrt, mich für meine direkten Mitmenschen und für die gesamte Welt verantwortlich zu fühlen. Mein Leben in deutschen Strukturen hat mich gelehrt, diese Verantwortung in politischer und zivilgesellschaftlicher Arbeit auszudrücken. Das Leben an sich hat mich gelehrt, dass jeder von uns an irgendeiner Stelle von unendlich vielen Kausalketten sitzt. Die kleinste Abweichung an einer dieser Stellen zu einem besseren Handeln hin kann langfristig das ganze System verändern. Und Abweichungen werden durch Perspektivenwechsel im Kopf ausgelöst. Indem man zum Beispiel den Blick abwendet von den Defiziten des eigenen Lebens hin zu dem, was einem geschenkt wurde. Und wer kann schon leugnen, dass wir als Einwohner Deutschlands alle vom Leben reichlich beschenkt worden sind?

Auch ich habe mich irgendwann bewusst dafür entschieden, dankbar zu sein für alles, was Deutschland mir freiwillig gegeben hat, und dankbar für alles, was ich mir erkämpfen musste. Hätte ich mich nur auf das konzentriert, was Teile der deutschen Gesellschaft mir immer wieder nehmen wollten, weil einige Begriffsstutzige der Meinung waren, dass „Geduldeten“ nichts zusteht, würde ich wahrscheinlich heute noch in meinem sozialen Brennpunkt mein Schicksal beweinen und mit Hassgedanken allen Gutmenschen das Leben erschweren. Ist doch nicht schlecht, dass dieses „Asylantenmädchen“ sich trotz aller Vorbehalte einen Weg in ein globales Bildungsbürgertum erkämpft hat. Wäre doch noch besser, wenn wir vielen anderen Kindern dieser Welt eine solche Chance freiwillig und gerne einräumen könnten. Wäre doch schön zu wissen, was in einer Atmosphäre, die schon auf den Flügelschlag eines Schmetterlings reagiert, das Ersetzen des Wortes „geduldet“ durch das Wort „willkommen“ alles bewirken kann.

Text: Dilşad Budak  Sarıoğlu
Redaktion: Tuğba Yalçınkaya

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