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Heimatluft

Was ich rieche, wenn ich an Zuhause denke

Ich erinnere mich daran, dass die Stadt nach Vielem riecht. Nach abgestandenem Meerwasser, nach Kanalisation, aber ganz besonders: nach Salz. Der Salzgeruch klebt auf der dicken Staubschicht der Busse, in den plattgetrenen Kaugummis im Bordstein, an den durchgeschwitzten Klamotten der Menschenmassen im Sommer. Er bildet eine weiße, kristalline Kruste auf dem Holz der kleinen, schaukelnden Boote; man kann ihn im Simit, in den Miesmuscheln, den Maiskolben und den gerösteten Maronen, die auf der Straße verkauft werden, in der Luft auf dem Fischmarkt, und manchmal sogar am Rand des bauchigen Teeglases schmecken, wenn man mit den Lippen darüberfährt. Die dunklen Abgase, die im Straßenverkehr flimmern, mischen sich mit dem Salz.

Istanbul riecht auch ein bisschen süß. Der Geruch hängt klebrig in der feuchten, warmen Luft im Dolmuş, er umgibt teure Frauen in Stöckelschuhen, geschminkten Gesichtern und langen Beinen wie parfürmierte Wolken. Er trieft aus den Schaufenstern der Muhallebecis, tropft zäh als şerbet von den goldbraunen Blätterteigschichten im Baklava. Die Süße frisst sich in die Hände, wenn sie beim Hausbesuch in Kolonya eingerieben werden. Und sie setzt sich viskos im lauwarmen, stehengelassenen Tee ab, oder klebt am halbherzig gewaschenen Teeglas.

Zu jeder Jahreszeit hängt das Blau des Frühlings wie ein dünnes, ausgeblichenes Hemd über der Stadt, als ob sie sich vom Frühjahr nie wirklich verabschieden könnte. Ein Hauch von Rot liegt auf den Straßen. In den Leuchtschriften der Werbeanzeigen. Den Straßenwägen der Simitverkäufer. Den weggeschmissenen Marlboro-Schachteln, die im Abflussgitter hängengeblieben sind. Den genormten Straßen- und Hausnummernschildern, die so gar nicht in die ungenormten Gassen passen. Den türkischen Flaggen, die an Bayram träge aus den Fenstern hängen. Das Rot leuchtet in den buntgetupften Spiegelungen der Lichter auf dem Bosporus.

All die Gerüche, Geschmäcker und Farben der Stadt fließen in meine Gedanken, meine Erinnerungen. Und jetzt sitze ich hier nachts in Bremen an der Weser, und fühle ein Stückchen Istanbul. Ich lausche der Stille des Flusses, schaue auf ein paar rote Tupfen, die sich auf dem Wasser verirrt haben. Es weht ein bisschen Salz mit im Wind, vielleicht von der Nordsee, die nicht allzu weit weg ist. Auf meiner Zunge schmecke ich keine Süße; es liegt der nüchtern-herbe Geschmack einer halbleeren Haake-Beck-Flasche auf ihr. Und ich bilde mir ein, dass der Mond, der sich auch hier auf dem Wasser spiegelt, mir sagen will: Deine Heimat brauchst du nicht zu suchen. Du musst nur zuhören, genau hinschauen. Denn überall kann Heimat sein, und immer ist sie ein bisschen da.

Text: Yasemin Bodur
Bilder: in Reihenfolge Tuğba Yalçınkaya, Sabrina Raap, Marie Hartlieb

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