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Ein Interview mit Kabus Kerim

Von Manisa nach Nürnberg – von Nürnberg zur Musik

“Ich habe nur eine Frage Landsmann, wo ist deine Heimat?

Diese Welt ist meine Heimat.

Nein, du verstehst nicht Landsmann, wo ist deine eigentliche Heimat?

Diese Welt ist meine Heimat.” – Barış Manço

Es ist ein sonniger Mittwoch Mitte Dezember. Ich mache mich von Kadıköy auf den Weg in Richtung Çukurcuma, um dort mit Kerim Yüzer alias Kabus Kerim ein Interview zu führen. Die meisten kennen ihn wohl entweder von Cartel oder aus der Gruppe Karakan.

Meine Kindheit sowie die Jahre meiner Kindheit (die 90er und frühen 2000er Jahre) gehen mir in letzter Zeit sehr viel durch den Kopf. Während ich die Lieder, die Gesänge, die Redewendungen der 90er, ja, sogar der Jahre davor höre, fühle ich mich fast, als würde ich die einzelnen Teile eines unvollständigen Ganzen zusammensammeln und Stück für Stück an ihren Platz legen.

Als ich letzten Monat, nachdem ich kurzentschlossen zu einem BaBa ZuLa Konzert ins Babylon gegangen war, bei der Midnight Session ein Set von Kabus Kerim hörte, fügte sich scheinbar wieder so ein Teil zu den anderen. Ohne jedoch viele weitere Worte zu verlieren oder in Klischees und nostalgische Gefühle abzudriften und ohne zur Frage zu drängen, ob denn bitte schön immer noch keine Zeitmaschine erfunden wurde, möchte ich euch ganz unserem Interview überlassen.

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MAVIBLAU: Wie kam es zu Ihrer Verbindung nach Deutschland? Wie verlief für Sie der Übergang von Manisa nach Nürnberg?

Kabus Kerim: Auf den Ruf meiner Eltern hin kam ich mit 8 Jahren nach Deutschland, wo ich seit gut 30 Jahren lebe. Ich bin damals keinstenfalls aus freien Stücken nach Deutschland gegangen. Hätte ich damals schon selbst entscheiden können, wäre ich nicht gegangen. In der Türkei fühle ich mich sehr entspannt, sehr gut und sehr zuhause. Es ist, als wäre ich in Deutschland nie richtig zuhause gewesen und sei es auch noch immer nicht.

Manche Deutsch-Türken berichten, wenn sie ihre Geschichten erzählen, von einem Zwiegespaltensein, dem Gefühl, zwischen den Dingen zu stehen. Haben Sie dies auch jemals so empfunden?

Nein. Aber ich erlebte durchaus Zeiten, in denen ich mich einsam gefühlt habe. Die Menschen, die aus der Türkei nach Deutschland gegangen sind, haben nämlich eine große Veränderung vollzogen, sie haben sich komplett in sich zurückgezogen und haben die türkische Kultur sehr anders gelebt – ich wurde selbst Zeuge solcher Situationen. Aber ich gehörte weder zu ihnen, noch zu den Deutschen. Vielleicht fühle ich mich auch genau aus diesem Grund nie fremd, wenn ich in der Türkei bin: Die Leute denken nicht, dass ich aus Deutschland komme oder in Deutschland lebe.

Was haben Sie empfunden, als Sie als Kind das erste Mal nach Deutschland kamen? Erinnern Sie sich noch daran?

Natürlich, ich erinnere mich noch sehr genau daran. Ich weiß auch nicht, zur Zeit scheint es ja regelrecht eine Mode zu sein, von Taumata zu sprechen. Aber für mich war es tatsächlich ein großer Albtraum, nach Deutschland zu kommen. Ich bin in der Türkei in einem sehr entspannten Umfeld, in einer nachbarschaftlichen Umgebung, in der alle füreinander sorgten, und in einer großen Familie aufgewachsen. Onkel, Tanten, im ganzen Umkreis waren sich alle sehr nah und vertraut. Und aus solch einem Umfeld kam ich in ein mir unbekanntes Land, in welchem ich weder die Sprache noch die Religion und Kultur kannte. Alles, was ein achtjähriges Kind in solch einer Situation eben fühlen konnte, habe ich auch gefühlt. Vielleicht kann ich es so sagen: Ganz zu schweigen von einer normalen Kindheit, konnte ich nicht einmal den Schabernack machen, den man als Kind eben machen möchte, denn das alles war in dieser Kultur so komplett anders, dass es nicht einmal verstanden wurde. Was weiß ich, in Deutschland konnte sich das Zerbrechen eines Fensters oder einer Lampe beim Steine-gegen-Fenster-Werf-Spiel gleich in Form einer Geldstrafe auf die Familie auswirken. Das bringt einen doch schon sehr zum Nachdenken. Aber ich habe mich auch nie so verhalten, wie es dort von mir erwartet wurde. Ich habe immer alles so gemacht, wie ich es wusste und habe mir so meine Identität erhalten. Vielleicht habe ich auch deswegen nicht das Gefühl gehabt, irgendwo dazwischen zu stehen.

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Wie verlief Ihre Jugend in Deutschland?

Ich habe die Dinge, die ich in meinem Stadtviertel in Manisa erlebt habe, mit mir nach Deutschland gebracht und dort ganz natürlich weitergelebt. Eigentlich war ich ganz schön entspannt. Ich kannte auch Deutsche und lernte ihre Sprache und Kultur. Ein Mensch kann ja wählen, welche Kultur er einer anderen vorziehen möchte. Unser Robin Hood-Gebaren von früher waren eigentlich ein auf  natürlichem Wege entstehendes Teilen, ein gegenseitiges Unterstützen. Also das Gleiche, was wir auch heute noch machen. Wenn es einem Freund nicht nur aus finanzieller Sicht, sondern auch seelisch nicht gut ging oder er durch schwere Zeiten ging, versuchten wir, ihn zu unterstützen. So war es einmal, jedoch spüre ich in letzter Zeit, dass dies auf der ganzen Welt immer seltener zu werden beginnt. Jeder zieht sich in sich selbst zurück, ist auf sein eigenes Wohlergehen bedacht, keiner ist mehr “echt”.

Ich habe gelesen, dass es eine Zeit gab, in der Sie sich von allem zurückgezogen hatten. Wie hat diese Phase Ihre Sichtweise auf die Dinge beeinflusst – oder hat Sie sie überhaupt beeinflusst?

Ich habe mein Geld neben der Musik als Selbstständiger verdient und versucht, bestimmte Krisen zu überwinden. Über eine davon konnte ich nicht hinwegkommen und als ich bemerkte, dass alles, was ich mir aus eigener Kraft erarbeitet hatte, zu verschwinden drohte, wollte ich das verhindern. Da ich aus dieser Krisenphase jedoch nicht herauskam, war ich für eine kurze Zeit obdachlos. In dieser Situation halfen mir meine Freunde. In Deutschland gibt es einen Ort für Retreatment, das Kloster. Dorthin ging ich im Sommer 2008, blieb für drei Monate und sammelte mich wieder. Wenn man Kloster hört, denkt man sofort an einen religiösen Rückzugsort, aber das war dort nicht so. Man macht dort Yoga, Meditation und man nimmt ein wenig Abstand von allem. Diese drei Monate wurden für mich zum Wendepunkt. Bis dahin hatte ich nie dort bleiben wollen: “Das ist mir hier alles zu blöd. Ich muss andere Dinge machen.” Ich war immer noch fokussiert darauf, meine Arbeit zu retten und von Neuem aufzubauen. Später spürte ich jedoch, dass es mir gut tun würde, dort zu bleiben und es war wirklich gut für meine Seele, eine Weile in der Natur und ganz von der Außenwelt abgeschnitten zu sein. Danach konzentrierte ich mich etwas mehr auf die Musik. Früher war ich sowieso eins mit der Musik; dort habe ich sie und ihre heilende Wirkung jedoch von Neuem entdeckt.

Worin finden Sie Inspiration, wenn Sie Musik machen? Es scheint, als würden Sie in letzter Zeit die Vergangenheit und die Musik aus vergangenen Zeiten wieder neu entdecken.

Ich denke nicht viel nach, ich fühle es. Wenn ich darüber nachdenken würde, wäre ich anders, kommerzieller unterwegs. Zunächst habe ich 2007 begonnen, türkische Lieder mit einem Rap-Unterbau zu kreieren. Danach habe ich für meine Mutter “Anneme Funk” (“Funk für meine Mutter”) produziert. Im Anschluss daran begannen diese Art von Arbeiten immer mehr Menschen zu erreichen. Aber wir haben immer verteidigt, dass wir nicht wollten, dass unsere Produkte so nicht konsumiert würden. In den letzten Jahren gibt es auf diesem Gebiet Menschen, die darin eine Zukunft sehen und die Arbeit für kommerziellere, aber leidenschaftslosere Zwecke nutzen. Ich glaube, dass diese Leute sowohl die Arbeit, als auch sich selbst erheblich ausgeschöpft haben. Das war nicht die Absicht, als wir diese Musik gemacht haben.

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Was für ein Prozess ist für Sie das Musikproduzieren?

Ich mache Musik ohne kommerzielle Ansprüche zu haben, einfach wie sie kommt. Mir können auch Lieder Inspiration sein, die nicht sehr populär sind, aber für mich eine Bedeutung tragen. Gleichzeitig müssen die Lieder, die ich auswähle, eine große Musikalität aufweisen. Es muss mir Freude machen. Also ich würde nichts bearbeiten, editieren oder meinen Zuhörern präsentieren, das ich nicht selbst schon gehört habe. Auf der Bühne entstehen sowieso oft bestimmte Dinge live. Das ist nichts, was man denkend oder planend machen kann. Ich habe zum Beispiel gestern gespielt und dabei ist etwas komplett anderes herausgekommen. Momentan weiß ich noch nicht einmal selbst, was da passiert ist. Bei einem nächsten Konzert werde ich das vielleicht nicht wieder machen bzw. gar nicht machen können. Das, was in dem Moment passiert, ist wichtig, weil ich mich auf eine gewisse Art dem Thema hingebe. Ich bin nur das Mittel zum Zweck.

Was sehen Sie, wenn Sie ins Publikum blicken, während Sie auf der Bühne Musik machen?

Manchmal sehe ich in ganz kurzen Momenten wunderbare Dinge. Zum Beispiel sind unter den Zuschauern immer auch Menschen, die ich kenne, meine Freunde. Der eine arbeitet in einer Bar, ein anderer im Transportgewerbe und wieder ein anderer als Anwalt. Und jeder vergisst in diesem Moment seinen Berufsstatus und gibt sich der Musik hin. Ich kann das sehen – und das ist ein ganz besonderes Gefühl. Ich sehe auch, dass sogar Geschlechter keine Rolle mehr spielen, während die Leute tanzen und Musik hören. Menschen, die sich draußen vielleicht sehr distanziert begegnen würden, können hier ganz vertraut miteinander sein. Sie öffnen sich mental und seelisch.

Und gibt es Ihrer Meinung nach einen Unterschied darin, in Deutschland oder der Türkei zu spielen?

Ich finde, es gibt keinen. Ich fand es nur früher sehr interessant. Ich bin 2010 von Deutschland in die Türkei gekommen, um dort türkische Musik zu spielen. Also ich habe quasi Türken türkische Musik vorgestellt. Das kam mir ein bisschen komisch vor. Ich fragte mich: “Gibt es denn niemanden, der das in der Türkei spielt?” Jetzt ist das natürlich mehr geworden und man muss es auch zu präsentieren wissen. In Deutschland habe ich, was das betrifft, vor Deutschen und vielleicht vier bis fünf Zuhörern aus der Türkei in Veranstaltungsorten gespielt, die man als alternativ bezeichnen würde. Dort sagten sie insbesondere: “Spiel Türkisch, das gefällt uns. Wir können das nicht überall hören und diesen Sound erwischen.” Das war für mich eine wichtige Rückkehr.

Gibt es Musiker, die Sie in letzter Zeit gehört haben, welche Sie beeindruckt haben und die Sie von Neuem entdeckt haben?

Musik bringt einen von selbst zum Zuhören, zum Recherchieren. In letzter Zeit habe ich arabische Lieder, syrische Strömungen, lybische und ägyptische Strömungen erforscht, gehört und archiviert, funkige Dinge. Ich beschäftige mich viel mit deren Archivierung und Sammlung. Darauf verwende ich viel Zeit. Wann immer es etwas Neues gibt, habe ich sowieso viele enge Freunde, die mir dann ihre Empfehlungen schicken. Ich denke, dass es in der Türkei seitens junger Musiker große Entwicklungen und Fortschritte gibt. Es passieren also gute Dinge.

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Interview: Dilara Akkoyun
Fotos: Umar Özkan
Übersetzung: Vivian Mokowka

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