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Wie wird man zum besten Muezzin der Türkei?

Fünf Mal täglich. Manchmal weckte er mich auf, manchmal begleitete er mich auf dem Heimweg aus irgendeiner Bar. Manchmal nahm ich ihn nur als Hintergrundgeräusch wahr, dann wieder ganz bewusst, den Ezan, den Gebetsruf. Besonders in Istanbul mit über 3000 Moscheen ist der Ezan ein integraler Bestandteil der Geräuschkulisse. Sebastian Brameshuber lässt uns in seinem Film Muezzin auf amüsante und zugleich ernsthafte Weise hinter etwas blicken, was für viele Türken zum alltäglichen Rhythmus gehört. Ganz nebenbei behandelt er dabei das Verhältnis zwischen Islam und Musik, den osmanischen Einfluss auf die Ausübung des Islam der Türkei und das Spannungsfeld zwischen Individualität und kollektivistischer Konformität.

Sebastian Brameshuber verfilmte in Muezzin (2009) die „Call of Prayer Competition“ des Jahres 2007, einen Wettbewerb, der 2004 ins Leben gerufen wurde, um den besten Muezzin der Türkei zu küren. Das Filmteam nimmt an der regionalen Vorausscheidung in Istanbul teil und begleitet den Gewinner Istanbuls zum Finale in Edirne, wo die zehn Gewinner der Vorrunden gegeneinander antreten. Der Wettbewerb selbst bleibt dabei eher im Hintergrund – im Fokus stehen dagegen die Teilnehmer, deren Wurzeln und familiärer Hintergrund, ihr Zugang zur Musik sowie die Atmosphäre der Moscheen und des Wettbewerbs. Wir wollen mehr wissen über die Entstehung des Filmes. Dazu treffe ich den Regisseur in Wien.

Mit der Kamera in die Moschee

2005 kam Sebastian als Assistent eines Fotografen zum ersten Mal nach Istanbul. Bei einem Fotoshooting lernte er den Muezzin der Sülemaniye Moschee kennen. „Ich weiß noch, wie wir auf das Minarett raufgegangen sind, der Blick über Istanbul. Der Muezzin erzählte mir dann von dem Wettbewerb. Und irgendwie ist mir das dann nicht mehr aus dem Kopf gegangen.“ Nach einer Recherche von Wien aus und einem weiteren Istanbul-Besuch hat sich die Idee zum Film verfestigt.

Muezzin befasst sich mit dem künstlerischen Spielraum des Ezan, dessen individueller Gestaltung, verbunden mit der Idee des Wettbewerbs. „Der Text und die Tageszeit sind vorgegeben, trotzdem bleibt ein Minimalspielraum zur künstlerischen, individuellen Ausgestaltung“, erzählt Sebastian Brameshuber. „Die Kunst ist es, den Gebetsruf so individuell wie möglich zu gestalten, um sich von den Konkurrenten in den Nachbar-Moscheen abzuheben. Das wird einerseits mit Qualität gemacht, aber auch mit Lautstärke oder Geschwindigkeit. Dieser Konkurrenzgedanke hat mich interessiert. So wie im Hip Hop, eine Battle. Die Idee ist ja auch, mit dem schönsten Gebetsruf die meisten Leute in die Moschee zu holen. Dieser Battle-Gedanke erfährt dann im Wettbewerb den direkten Ausdruck. So hat das seinen Ausgang genommen, 2006.“

Mit einem bisschen Geld in der Tasche ging es 2007 mit einem Auto voller Equipment auf nach Istanbul, wo er dann die nächsten 2,5 Jahre bleiben sollte. Im Religionspräsidium in Ankara holte das Filmteam von den obersten Autoritäten die notwendigen Genehmigungen ein. „Für die Herren, die da gesessen haben, waren wir wohl sehr ungewöhnliche Erscheinungen. Aber unsere Idee hat ihnen total getaugt und sie stellten uns ohne Weiteres die Genehmigung aus. Zwar musste noch bei jedem Müftülük (lokale islamische Behörde) eine Genehmigung eingeholt werden, aber der Schein aus Ankara war wie ein Blankoscheck“, erinnert sich Sebastian.

Das Filmteam kontaktierte die Teilnehmer der Wettbewerbe der letzten Jahre, drei von ihnen wurden dann beim Wettbewerb 2007 begleitet. Eine zentrale Rolle spielt Habil Öndes, ein am Konservatorium ausgebildeter Imam, der selbst den Gebetsruf lehrt. „Sie sind stolz auf das, was sie machen. Sie sehen sich in der Tradition der osmanischen Muezzine, die die Musikalität in der Moschee zur Hochblüte brachten.“ Dennoch haben die Protagonisten unterschiedliche Auffassungen darüber, ob der Muezzin nun ein Künstler ist oder doch allein ein Instrument Gottes – und damit auch darüber, welchen Stellenwert Individualität in einer muslimischen Kultur hat.

Der Alltag der Muezzine

Die verschiedenen Charaktere erlaubten dem Team auch Einblicke in ihr Privat- und Alltagsleben. So porträtiert Muezzin auf subtile Weise auch den Alltag einer religiösen Gesellschaft. Sebastian Brameshuber umkreist dabei das Thema, nähert sich spiralförmig an. Es ist nicht die direkte Aussage, die den Regisseur interessiert, „sondern was die Dinge von sich aus erzählen“. Auf diese Weise werden beispielsweise Ambivalenzen angesprochen, die sich aus dem Zwiespalt Wissenschaft vs. Religion ergeben, oder die Strukturen einer islamisch geprägten Familie abgebildet.

Obwohl diese Themen den eigentlichen Kern des Filmes ausmachen, stehen sie im Hintergrund, werden nicht direkt angesprochen. Stattdessen ergeben sie sich quasi natürlich aus der Situation heraus. In einer Szene beispielsweise spielen die Imame Beach-Volleyball am Schwarzen Meer. „Das erzählt viel mehr darüber hinaus, als was man sieht. Sicher sagt es was über die Kultur aus, dass da nur Männer sind.“

Der Blick von außen

Sebastian Brameshuber bezeichnet sich selbst als einen äußerst politisch interessierten Menschen. In seiner Zeit in Istanbul setzte er sich intensiv mit Geschichte, Politik und Soziologie auseinander. Von türkischer Seite habe er daher oft gehört, dass der Film eigentlich sehr türkisch und nicht wie von einem Ausländer gedreht worden sei. „Klar, wenn ich mir den Film jetzt wieder ansehe, sehe ich schon die ausländische Perspektive. Aber es ist so dicht dran, so eine Perspektive von innen, sodass der Film auch in der Türkei gut angekommen ist.“

Er selbst meint, dass „so ein Film in der Türkei so nie gedreht worden wäre.“ Filmemachen sei eine Tätigkeit, zu der vor allem die wohlhabende, säkulare und westlich orientierte türkische Oberschicht Zugang habe. „Die Leute, die damals Film studierten oder Filme machten, wollten mit Religion nichts zu tun haben. Ich denke, das ist immer noch so. Und religiöse Menschen, die sich dafür interessieren könnten, haben meist nicht die nötige Distanz und neigen zur Verklärung. Vielleicht wäre eine Fernsehreportage gedreht worden, aber sicher kein Kinodokumentarfilm mit künstlerischem Anspruch.”

Sebastian Brameshuber hat es jedenfalls getan. Für mich persönlich ist Muezzin eine große Bereicherung, da er mir ein Bild zum Ton gibt, ihn dadurch entmystifiziert und somit eine Lücke in meinem Verständnis der türkischen Kultur füllt. Nun ertappe ich mich, wie ich die verschiedenen Melodien zu erkennen versuche, mir die unterschiedlichen Tonlagen plötzlich auffallen; oder erinnere mich zurück an den Ezan in Olympos, der nicht mal eine Minute gedauert hat…

Infos zu Muezzin können auf der Webseite gefunden werden.

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Text: Elisabeth Nindl

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