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Über Spiritismus, Motorradkult und Schönheitsoperationen – Ein wissenschaftlicher Blick auf die Türkei. Das Orient-Institut Istanbul

Wir treffen den Direktor des Orient-Instituts Raoul Motika im Institutsgebäude in Cihangir. Bereits die Fahrt mit dem historischen Fahrstuhl zum Büro, der mit einer gepolsterten Bank und einem Spiegel halb möbliert ist, lässt auf etwas Besonderes hoffen und evoziert ein Gefühl von Neugier. Gut gelaunt und gut gekleidet werden wir dann von ihm in seinem hellen Büro mit Bosporusblick empfangen.

Raoul Motika ist jetzt schon in der zweiten Amtsperiode für das Orient-Institut Istanbul verantwortlich, das seit 2009 mit steigender Anerkennung der deutsch-türkischen Beziehungen vom Orient-Institut Beirut unabhängig geworden ist, „de facto aber 2010, also in dem Jahr in dem ich hergekommen bin“, so Motika. Eigentlich wollte er Auslandskorrespondent werden und schlug dann doch die wissenschaftliche Laufbahn ein, wie sich herausstellen sollte sogar sehr erfolgreich. Nach Auslandsaufenthalten in Izmir und Teheran, als Teil der ersten westlichen Studentengruppen nach der Revolution 1978/79, schloss er 1992 sein Studium in Geschichte und Kultur des Nahen Ostens in München ab, promovierte dann an der Universität Heidelberg, koordinierte an der Universität Bochum ein großes internationales Projekt zur Islamischen Bildung in der Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten, hatte eine Professur in Bern für Islamwissenschaften inne, ging dann nach Hamburg an die Universität als Professor für Turkologie und gründete dort auch das TürkeiEuropaZentrum Hamburg, um nur  ein paar der wichtigen Stationen in seinem Leben zu nennen. Dass der Mann, der acht Sprachen beherrscht, nun seit nunmehr sechs Jahren Direktor des Orient-Instituts ist, ist für ihn eine klare Entscheidung: „So viele Gestaltungsmöglichkeiten wie in so einer Position hat man nirgendwo sonst in der Wissenschaft.“
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Das Orient-Institut Istanbul ist…

…ein deutsches unabhängiges Forschungsinstitut, das zum Verbund der zehn geisteswissenschaftlichen Forschungsinstitute der Max-Weber-Stiftung gehört, die rund um die Welt verteilt sind. Bis zu fünfundzwanzig Personen arbeiten im Institut, darunter eine schwankende Zahl von Stipendiat*innen. Neben der Forschungsbibliothek, die aus über 40.000 Bänden sowie 1.400 Zeitschriften mit der thematischen Ausrichtung auf osmanische Geschichte und gegenwartsbezogene Studien zur Türkei besteht und für jeden zugänglich ist, beschäftigt sich das Institut in Kooperationen mit türkischen und internationalen Wissenschaftler*innen, sowie internationalen Stipendiat*innen mit verschiedenen Forschungsprojekten zur Kultur, Geschichte und Gesellschaft der Türkei. Das Besondere ist nicht nur, dass die meisten Forschungsschwerpunkte bisher weder in der internationalen noch türkischen Wissenschaft erforscht wurden, sondern auch die zahlreichen Publikationen auf Deutsch und Englisch in diesem Gebiet. Paramater sind immer Qualität und Internationalität, auch um die Internationalisierung der türkischen Forschungslandschaft zu unterstützen.

Mit tagespolitischen Themen beschäftigt sich das Institut nicht, vielmehr geht es darum, vertrauensvolle wissenschaftliche Beziehungen zu schaffen, eine Drehscheibe für internationalen Austausch zu sein und die Vielfalt der osmanischen und türkischen Geschichte und Kulturen auch in der Forschungsarbeit widerzuspiegeln. Wie zum Beispiel bei der Religionsforschung „da beschäftigen wir uns zur Zeit nicht mit dem Mainstream-Islam, sondern wir schauen, was für neue religiöse Bewegungen gibt es in der Türkei, beschäftigen uns mit Buddhismus in der Türkei, mit Yoga in der Türkei, mit Themen wie Spiritismus, der im späten Osmanischen Reich aufgekommen ist“, erzählt uns Motika. Tatsächlich merkt man ihm seine langjährige Lehrtätigkeit an Universitäten an. Er erzählt lebhaft von seinen Forschungsschwerpunkten, von einer aufsteigenden Motorradkultur in der Türkei  und erinnert sich an einen Korso mit 300 Motorrädern zu Gezi-Zeiten. Des Weiteren spricht er über geschichtliche Ereignisse, wie die Schlacht von Galipolli, die im Ersten Weltkrieg zu einem modernen Nationalbewusstsein in Australien und Neuseeland geführt hat und damals noch britische Kolonien waren. Man bekommt den Eindruck, dass er sich ganz im Sinne Clifford Geertz in das Gewebe seines Forschungsgegenstands begibt, wenn er vom Leben und Arbeiten in Istanbul erzählt. „Für uns ist es auf allen möglichen Ebenen wissenschaftlich total interessant. Wir haben hier eine Gesellschaft, die in den letzten 30 Jahren enorme Migrationsprozesse erlebt hat, nicht allein deutsch-türkische, sondern in erster Linie Binnenmigration. Als ich studiert habe, hatte Istanbul noch 5 Millionen Einwohner, jetzt sind es 15 bis 17 Millionen und das ist ja gerade mal 25 Jahre her. Bei vielen unserer Projekte ist der Hintergedanke, wie verarbeitet eine Gesellschaft das. Auch dieser Aufschwung von Religiosität hat damit zu tun, dass Leute in Wandlungsprozessen Sicherheiten suchen.”
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Man kann mitmachen…

…zum einen als Praktikant*in, allerdings aus rechtlichen Gründen leider nur, wenn man an einer deutschen Hochschule eingeschrieben ist, bekommt dafür sogar finanziell eine sehr gute Unterstützung zum einen vom DAAD und zum anderen vom Institut selbst. Bewerber*innen sollten dafür ein Fach studieren, dass mit den Forschungsschwerpunkten zu tun hat und in der Regel Türkisch sprechen können, damit man in die Forschungsprojekte integriert werden kann. Für Wissenschaftler*innen und solche, die es werden wollen, steht ansonsten noch die Bibliothek offen. Zum anderen findet im Herbst eine Vortragsreihe „ganz nach unserem Model von deutschen und türkischen Wissenschaftlern“ statt, die sich im Rahmen des Forschungsprojekts Mensch, Medizin, Gesellschaft unter anderem mit Phänomenen wie Schönheitsoperationen und Eizellverjüngung beschäftigt.

Ein besonderer Moment am Orient-Institut Istanbul…

…war für Raoul Motika vor allem die Verwirklichung der größten internationalen Konferenz zum Ersten Weltkrieg in der Türkei gemeinsam mit fünf türkischen Universitäten, dem Tarih Vakfı und dem französischen Forschungsinstitut IFEA. Mit 400 bis 500 Teilnehmer*innen und 80 Vorträgen. „Das war für mich eines der Highlights bisher.“ Außerdem kann man das Orient-Institut bald im Teutonia Gebäude beim Galata Turm finden, denn dort soll es in zwei Jahren für die nächsten 49 Jahre erst mal wohnen.

Informationen über das Orient-Institut findet ihr hier.

Text: Aylin Michel
Fotos: Emily Mahringer
Redaktion:
Tuğba Yalçınkaya
Online-Map:
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