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Geschichten von Migranten, nicht über sie

Ein Besuch im virtuellen Migrationsmuseum

Migration ist in Deutschland zu einem allgegenwärtigen Thema geworden. Häufig geht es um Debatten der Migrationspolitik oder um Probleme der Migration und Integration. Der Mensch als Individuum, der hinter dem Begriff der Migration steckt, rückt dabei nur ganz selten in den Fokus. Das virtuelle Migrationsmuseum des Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland (Domid) aus Köln gibt diesen Menschen deshalb einen persönlichen Raum und lässt sie selber erzählen.

Das virtuelle Migrationsmuseum führt die Besucher*innen auf drei verschiedenen Zeitebenen durch eine fiktive Stadtlandschaft, die sie eigenständig erkunden können. Durch das fiktive Betreten einer alten Bahnhofshalle, einer Fabrik oder eines Wohnheims, die thematisch in Bereiche wie Arbeit, Kultur oder Bildung gegliedert sind, begeben sie sich auf eine Reise durch die Migrationsgeschichten in Deutschland. Die Geschichten werden durch Fotos, Videos, Interviews mit Zeitzeug*innen, historische Dokumente und 3D-Scans von Objekten interaktiv erfahrbar.

So stößt man zum Beispiel auf das Kleid einer Togolesin, das sie nach ihrer Anreise in Deutschland selber genäht hat, oder auf die Schallplatte von Yüksel Özkasap, die in den 60er Jahren als Arbeiterin nach Deutschland kommt und wenig später als Sängerin in einer Fabrik entdeckt wird. Man bekommt unmittelbare Eindrücke aus dem Leben von Menschen, zum Beispiel aus dem eines vietnamesischen Regisseurs, der aufgrund seines Aussehens keine Shakespeare-Rollen bekommt oder erfährt über das Leben und die Erinnerungen eines Überlebenden des Brandanschlags in Mölln.

“Objekte eröffnen Tore zu Biografien”

Im Mittelpunkt des Museums steht stets die Frage: Welcher Mensch sitzt vor uns? Denn ein Mensch sei schließlich mehr als nur ein Migrant, so die kuratorische Leiterin des virtuellen Migrationsmuseums Sandra Vacca. „Wir arbeiten nicht mit Papieren oder Zahlen, sondern mit Menschen“, fügt ihre Kollegin Bengü Kocatürk-Schuster hinzu. Im virtuellen Migrationsmuseum gehe es um die Ganzheitlichkeit des Menschen und darum, wie persönliche Migrationsgeschichten die Gesellschaft, Geschichte und das Zusammenleben in Deutschland nachhaltig geprägt haben.

Sandra Vacca (links) und Bengü Kocatürk-Schuster

Dafür sind die beiden in Zusammenarbeit mit ihrem Team durch ganz Deutschland gereist und haben explizit nach Menschen und Orten und ihren Geschichten gesucht. „Was soll ich denn erzählen? Ich habe nichts zu erzählen“, habe es zu Beginn vieler Interviews, die Bengü und Sandra mit ganz unterschiedlichen Menschen geführt haben, oft geheißen. Mit Feingefühl und aufrichtigem Interesse tasteten sie sich an die Menschen und ihre Geschichten heran und vermittelten ihnen: Deine Geschichte wird aus deiner Perspektive erzählt.

So kam es, dass Objekte der Erinnerung, wie Urlaubsfotos aus den 70er Jahren oder eine alte Teekanne aus verstaubten Truhen herausgekramt wurden. Objekte, so die beiden Macherinnen des Museums, eröffnen Tore zu Biografien. Häufig seien die Interviewpartner*innen am Ende des Gesprächs selber erstaunt darüber gewesen, wie viel sie zu erzählen hatten. Sie alle haben eine Geschichte, die zu erzählen und zu teilen es sehr wert ist. Davon sind die beiden Macherinnen des virtuellen Museums überzeugt. Auf ihrer Reise durch die facettenreichen Migrationsgeschichten in Deutschland haben Bengü und Sandra und ihr Team wertvolle Einblicke bekommen. „Das ist ein besonderes Privileg, das wir durch unsere Arbeit haben und sehr schätzen“, erzählt Sandra.

Diese oftmals emotional sehr berührenden und vielseitigen Einblicke haben sie mit den Möglichkeiten des Internets aufbereitet und für eine breite Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Die Inhalte des virtuellen Museums bleiben aber nicht nur im Internet, sondern werden außerdem in Form von interkulturellen Workshops an Schulen, Universitäten und in öffentlichen Ämtern weitergetragen. Auch in Ausstellungen finden diese Geschichten ihren Platz und vor allem Gehör.

Zentraler Platz für Türkisch-Deutsche Migration 

Deutsch-Türkische Migration nimmt im virtuellen Migrationsmuseum einen zentralen Platz ein. Das kommt nicht von ungefähr, denn Domid wurde 1990 von Migrant*innen aus der Türkei gegründet und fusionierte 2007 mit dem Verein „Migrationsmuseum für Deutschland“. Schon damals sei die Idee eines physischen Migrationsmuseums in Deutschland entstanden, welches  in der Zwischenzeit konkrete Formen angenommen hat.

Viele Ausstellungsobjekte liegen schon bei Domid. Als Bengü und Sandra durch das penibel angelegte Archiv führen, zeigen sie alte Kassetten, Briefe, Dosen, Schilder und weitere Objekte aus vergangener Zeit und erzählen darüber, wie manche von ihnen ins Archiv gelangt sind. “Das ist ein Spirometer”, sagt Bengü und zeigt auf das Lungenmessgerät. “Das Gerät wurde damals in der ‚Deutschen Verbindungsstelle‘ in Istanbul benutzt und wurde glücklicherweise von einem Vereinsmitglied gerettet”, sagt sie erleichtert, “sonst wäre es wahrscheinlich im Müll gelandet”.

Alte Geschichten neu erzählt

Das virtuelle Migrationsmuseum zeigt eine Bandbreite an berührenden, emotionalen, lustigen, tragischen, aber vor allem persönlichen Geschichten. Es lässt jene Menschen zu Wort kommen, die in der Vergangenheit nur wenig Gelegenheit dazu bekamen. Es sind Geschichten von Menschen, nicht über Menschen, die den Besucher*innen vor Augen führen, was in diesem Land schon alles – Gutes sowie Schlechtes – passiert ist. Damit wir unsere Geschichte nicht vergessen und aus ihr lernen. Und damit Impulse für ein neues Geschichtsnarrativ gesetzt werden, in das mehr Perspektiven einließen als früher.

Text: Tuğba Yalçınkaya
Bilder: Domid Fotoarchiv


Das Projekt „Gemeinsam unterwegs? Geschichte(n) der Migrationsgesellschaft“ ist ein weiteres Projekt von DOMID, bei dem es um Migrationsgeschichten in Deutschland geht. Unter dem Hashtag #Meinwanderungsland haben Menschen die Gelegenheit, ihre eigene Migrationsgeschichte zu teilen.


Ein weiteres besonderes Online-Museum ist das Frauenmuseum aus Istanbul. Dilara hat es sich genauer angeguckt und mit der Professorin Helma Lutz über dessen Bedeutung gesprochen.

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