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Ein Sezen-Aksu-Liederabend

Ein Saal wie aus einem Orhan-Pamuk-Buch: bosporusblaue Tapeten, ein edler Kristallleuchter, elegante schwarz gekleidete Frauen. Anlass der Zusammenkunft auf der Bühne ist die Trauerfeier für den „Gastarbeiter“ Klaus Gruber, der vor 50 Jahren aus Bielefeld nach Istanbul kam…

Michael Heicks Inszenierung baut auf ein Gedankenspiel auf, simpel wie fruchtbar: Was wäre gewesen,wenn statt Deutschland die Türkei in den Siebzigern einen derartigen wirtschaftlichen Aufschwung erlebt hätte, dass die eigenen Arbeitskräfte nicht ausreichend gewesen wären? Was wäre gewesen, hätten Bielefelder Menschen wie Klaus Gruber und später seine Frau Luise sich damals für ein Leben in Istanbul entschieden?

Die anfangs im Raum stehende Frage, wo Klaus Grubers Asche denn nun verstreut werden soll, ist einfach zu dechiffrieren: Es ist die Frage nach „Heimat“, nach Identität, und sie wird bis zum Schluss nicht klar beantwortet. „Hatte nicht schon Goethe türkische Vorfahren?“ fragt jemand, und beschwört die „historische Verbundenheit“ beider Nationen, die aktuell wie historisch für alle möglichen Belange konsultiert und entfremdet wird.
Die Bühne ist simpel gehalten, im Hintergrund durch’s Fenster immer eine Moschee im Großstadtdunst zu erahnen. Im Vordergrund bilden die Schauspieler*innen Oliver Baierl, Sebastian Graf, Doreen Nixdorf, Carmen Priego und Guido Wachter (Klaus Gruber) ein Dolmuş, von dem alle, die schon jemals in Istanbul waren, bezeugen können, dass es eine extrem authentische Darstellung ist.

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Die Handlung besteht aus kleinen Sequenzen von Heimweh und Sehnsucht Klaus Grubers. Über Szenen aus dem harten Arbeitsalltag bis zu einem Flirt mit der Türkin Ela, und, da Klaus Gruber in Rakı dann doch noch ein türkisches Getränk findet, dass ihm schmeckt (Çay hat einfach keine Chance gegen deutschen Filterkaffee…) einen Alkoholexzess, der ein wenig zu lange andauert um noch wirklich lustig zu sein. Macht aber nichts, denn die Szenen sind sowieso nur die Rahmung für die Sezen-Aksu-Lieder, von den Figuren musical-mäßig als Ausdruck ihrer Gefühle dargeboten. So singt Carmen Priego als Luise Gruber in einem Moment der Entfremdung von ihrem Mann Akus „Pardon“: Pardon, erinnern Sie sich? Haben wir uns nicht vorher schon getroffen, geliebt?

Die türkische Pop-Diva ist die bekannteste Sängerin der Türkei und spätestens seit Fatih Akins „Crossing the Bridge“ (2009) hat man auch in Westeuropa ein Bild von ihr: tough, glamourös, klar in ihren Statements. Dass die Bielefelder Schauspieler*innen ihre Lieder auf der Bühne singen (begleitet von einer tollen Band), ist eine Hommage an die Sängerin ebenso wie ein Geschenk an die türkischsprachigen Fans im Publikum, die das mit Tränen und Applaus quittieren.
Natürlich spielt die Inszenierung mit Klischees – aber während auf die türkische Kappe eher harmlose Witzchen gehen, wird die teilweise menschenunwürdige Behandlung der türkischen Gastarbeiter*innen durch Deutschland (beispielsweise die ärztliche Musterung, der sich alle türkischen Arbeiter*innen bei ihrer Ankunft unterziehen mussten) so auf die Bühne gebracht, dass das Lachen im Halse stecken bleibt. „Also wenn Deutschland jemals Gastarbeiter hätte“, sagt Klaus Gruber angesichts seiner schuhkarton-artigen Unterkunft, „dann würde es die in Palästen leben lassen. In Villen. Soviel ist sicher.“

Das Stück ist genau für die Leute entstanden, die im Saal sitzen: Bielefelder mit türkischen Wurzeln und einer Familiengeschichte, die vielleicht Parallelen mit jener Klaus Grubers aufweist; und Bielefelder ohne all das. Da die Frage nach Identität sowieso nie endgültig und ohne Schwarz-Weiß-Denken beantwortet werden kann, versucht die Inszenierung es auch nicht und setzt auf gemeinsame Schluchzer respektive Lacher  –  auf Vergleiche, in denen das Bielefelder Flüsschen Lutta gegenüber dem Bosporus ziemlich schlecht wegkommt, und auf die zeitlosen Lieder  Sezen Aksus . Bei allem Klamauk kommt die ernste Seite des Gedankenspiels nicht zu kurz – das letzte Lied ist „İstanbul İstanbul Olalı“ („Seitdem Istanbul Istanbul ist“) – und aus diesen Gründen feiert das Publikum das Stück mit unglaublich viel Applaus und das Theater Bielefeld nimmt „Istanbul“ mit in die nächste Spielzeit. Wie schön es doch wäre, würden wir uns alle ein bisschen öfter solchen Gedankenexperimenten unterziehen und die „Anderen“ etwas besser verstehen.

Text: Marie Lemser
Fotos: Joseph Ruben, Theater Bielefeld
Illustration: Alexandra Klobouk aus ihrem Buch „Istanbul mit scharfe Soße“