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Über 300 Jahre Türken an der Spree

Auf einen Çay mit Gültekin Emre

Mitten im Herzen des türkischen Berlins, am Kottbusser Tor, treffe ich mich mit Gültekin Emre, einem Berliner Stadtchronisten. Jede Stadt trägt viele Geschichten in sich, die meisten von ihnen schlummern jedoch unentdeckt unter der Oberfläche. Vergessene Facetten und Menschen im Strudel der sich verändernden Zeit. Berlin bildet hier keine Ausnahme – im Gegenteil! Durch die enorm wechselvolle Stadtgeschichte, die vielen Menschen, die es hierher, aber auch von hier weg zog, ist Berlin eine reichhaltige Fundgrube der unterschiedlichsten Geschichten. Gültekin Emre hat es sich zur Aufgabe gemacht die türkischen Facetten Berlins zu finden und zu archivieren.

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Türkische Spuren in Berlin zu finden, scheint in der heutigen Zeit eine leichte Aufgabe zu sein. Ein Spaziergang vom Hermannplatz in Richtung Kottbusser Tor und man entdeckt unzählige deutsch-türkische Aspekte im Stadtbild. Gültekin Emre sucht jedoch nicht nur im Hier und Jetzt, ihn zieht es tief hinein in 300 Jahre türkische Geschichte an der Spree. Obwohl der Begriff Geschichte für seine Arbeit zu kurz gegriffen scheint, sind es eine Vielzahl von Anekdoten, Biografien und historischen Ereignissen, die Gültekin Bey Stück für Stück an die Oberfläche bringt. „Da ist zum Beispiel Canan Hanım: Sie war eine türkische Bauchtänzerin in den 1920er Jahren im Berliner Nachtleben und sehr populär. Angeblich soll sie eine Sultanstochter gewesen sein, aber das stimmt nicht. Das war nur Reklame.“ erzählt er amüsiert.

Die Vergangenheit hat Gültekin Emre schon immer fasziniert: „Ich fand Geschichte und Bibliotheken immer sehr interessant und alte Sachen – Zeitungen, Bücher – habe ich mir gerne angesehen. Als ich nach Berlin kam, wusste ich natürlich wie viele Türken in Berlin lebten, aber ich hatte keine Ahnung, wie viele prominente Persönlichkeiten hier früher gelebt haben. Natürlich waren mir einige Geschichten bekannt, ab 1960 kamen ja viele Türken nach Berlin, aber die Geschichte davor kannte ich nicht.“

Auf den Spuren der Türken durch Berlin laufen

Bevor Emre nach Berlin kam, hatte er in Ankara Slawistik studiert und dort unter anderem in der Nationalbibliothek gearbeitet. Der Zufall und seine Neugier brachten ihn dazu, Spuren zu sammeln: „Mein erster Arbeitsvertrag war befristet auf zwei Jahre, danach war ich arbeitslos. Erst später bekam ich meinen unbefristeten Vertrag. Aber acht Monate lang war ich arbeitslos und hatte viel Zeit. Ich wollte nebenbei etwas machen, bin in die Bibliotheken gegangen und mich habe mich gefragt: ‘Was gibt es eigentlich über die Türken?’“

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Angefangen hat alles in einer Bibliothek am Potsdamer Platz, dort hat Gültekin Bey wochenlang Zeitungen und Karteikarten durchgeblättert und alle Titel mit türkischen Namen oder Themen rausgesucht. „Auf dem Ku’damm gab es zum Beispiel schon in den 1930ern einen türkischen Hotelbesitzer. Das ist eine Überraschung für die Leute. Auch die erste linke türkische Partei wurde in Berlin gegründet: Türkiye Işçi Sosyalist Fırkası (sozialistische Arbeiterpartei der Türkei). In der Kantstraße 8.“ Was jedoch auch ihn besonders überraschte, waren die vielen Fotos, die aus dieser Zeit noch geblieben sind.

„Jeden Tag entdeckte ich etwas Neues. Nach und nach, jeden Tag mehr kleine Aspekte. Mein Arbeitszimmer ist mittlerweile voll von diesen kleinen Geschichten: Fotos, Zeitungsartikeln und Büchern. Wenn es ein richtiges türkisches Archiv gibt, möchte ich dies alles abgeben. Was soll ich denn damit machen? Nach mir wird alles auf dem Müll landen. Leider.“ Denn bislang gibt es in Berlin kein Archiv zu türkischem Leben in der Stadt.

300 Jahre Türken an der Spree

Neben seinem eigentlichen Beruf als Lehrer arbeitete Emre an seinen verschiedenen Projekten. Er schrieb und redigierte in verschiedenen Zeitschriften und wurde 1983 durch die Ausstellung 300 Jahre Türken an der Spree bekannt. „Die hat eingeschlagen wie eine kleine Bombe. ‘Oh, 300 Jahre Türken an der Spree in Berlin, wirklich?’ So bin ich und das Thema etwas populär geworden. Ein Verlag kam auf mich zu und wollte ein Buch machen. Wir hatten es damals als dreibändige Arbeit gedacht, aber leider kam nur ein Buch zustande. Stattdessen habe ich eine zweite Ausstellung in Neukölln und Kreuzberg organisiert.“ 1987 folgte eine Dokumentation mit dem ZDF, es wurden 750 Jahre Berlin gefeiert und das türkische Berlin hatte seinen Platz in dieser Geschichte. Es folgen viele weitere Bücher und eine türkische Stadtführung. In Gültekin Emres Kopf sind aber noch viele weitere Ideen.

Gültekin Emre versucht ein Bewusstsein für die gemeinsame Geschichte zu schaffen, die vielen von uns noch nicht bewusst ist: „Ich habe ein Buch geschrieben: Türk Edebiyatında Berlin (Berlin in der türkischen Literatur). Viele Türken waren in Berlin und haben etwas über Berlin geschrieben – Gedichte oder Essays zum Beispiel. Das ist auch ein sehr interessantes Kapitel.“ Das Buch ist eine Zusammenarbeit mit Ara Güler, dem bekanntesten türkischen Fotografen. Er war in Berlin und hat die Stadt porträtiert.

Seine Liebe zu Berlin schrieb Gültekin Emre in unzähligen Gedichten nieder und setzt somit der Stadt ein türkisch-deutsches Denkmal. Das Schöne an dieser Geschichte ist, das sie noch lange nicht zu Ende ist:

BERLİNALE

Marlene Dietrich Alanı, dünya bir sahne değil mi
Viyana kahvesini arkana al, önünde film afişleri
Balzac kahvesinde Tuğrul Tanyol’un şiirleri

Kare kare bir ömür ki aşka ve kavgaya pırıl pırıl bıçaklar
Alt katta döner durur döner, sular seller kalabalık
“Kız sen Berlin’in neresindensin?” mektubun yanar dağ

Uzak artık ok mok yetişmez oralara, başını öne eğmiş buğday
Hani umutlar vardır ya kovalarsın kaçar, elindeymiş gibi bakar
Sabah bir dile akşam bir köşeye savrulur rüzgâr, yâr, yar aman

BERLİNALE

Der Marlene Dietrich Platz, ist die Welt keine Bühne?
Das Wiener Cafe im Rücken, vor dir die Filmplakate
Und Tuğrul Tanyols Gedichte im Balzac Café

Filmszene für Filmszene, mit glänzenden Messern für ein Leben mit Liebe und Kampf
Im unteren Geschoss drehen sich die Massen wie strömende Fluten
“Mädchen sag mir woher aus Berlin kommst du?” Dein Brief ist ein Vulkan

Es ist weit weg, kein Pfeil kann es erreichen und der Weizen hat schon seinen Kopf gesenkt
Es gibt Hoffnungen, die entfernen sich, desto mehr man ihnen folgt, doch schauen sie dich an, als wären sie in deiner Hand
Der Wind am Morgen zur Geliebten und abends in eine andere Richtung, Geliebte, Geliebte aman.

Text & Übersetzung: Rebecca Meier
Gedicht: Gültekin Emre
Fotos: Marie Hartlieb